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Magister Chambers stand während dieser kurzen Vorstellung auf und verbeugte sich ebenso schüchtern wie selbstbewusst; ungefähr so, als hätte er im Laufe der letzten Tage den tiefen Teller erfunden, aber die Tragweite des Ereignisses noch immer nicht ganz erfasst. Er sprach sodann mit großer Kunstfertigkeit über »Retardierende Erzählelemente in ihrem Bezug zum Spannungsbogen« und begann – wie jeder ausgezeichnete Philologe – bei Homer. Schlagartig umhüllte so etwas wie der tiefe Friede des Unverständnisses die dicht gedrängte Zuhörerschaft. Tatsächlich ist kaum etwas geeign eter, jedwede Art von Fanatismus zu beschwichtigen, als die retardierenden Erzählelemente in ihrem Bezug zum Spannungsbogen. Der novellistische Einschub, der klassische vierte Akt, schließlich die Sterne’sche Digressionstheorie – auch die wildesten Herzen und Hirne fühlten sich bald heimelig in die sorglosen Tage ihrer Schulzeit versetzt.

Der junge Philologe machte den sympathischen Eindruck eines Mannes, der so genau weiß, wovon er spricht, dass im Grunde keine Notwendigkeit zum Zuhören besteht, sondern seinem fachlichen Urteil blind vertraut werden kann. Er beging allerdings irgendwann den unverzeihlichen Fehler, auf Harriet Beecher-Stowe und Onkel Toms Hütte zurückzukommen. Nun erinnerten sich die zahlenmäßig drückend überlegenen Sklavereigegner wieder, wozu sie hergekommen waren, und ein Mann mit einem furchterregend alttestamentarischen Bart erhob sich und schwieg so eindrucksvoll, dass Chambers irgendwann nicht mehr umhinkonnte, ihn zu bemerken.

»Ja, bitte?!«, sagte der Magister, als erwartete er Einwände gegen seine Interpretation des Schildes des Achill – und kam danach, zumindest an diesem Abend, nie wieder zu Wort.

Er danke seinem Vorredner, sagte der Wohlbebartete – was sowohl der Hauptredner als auch der Vorstand der Literarischen Gesellschaft mit überraschtem Stirnrunzeln quittierten –, für seine klugen und nachdenkenswerten Worte. Aber man dürfe doch über alle retardierenden Elemente nicht den Sinn des Buches vergessen, der darin bestehe, die gotteslästerliche Unmenschlichkeit der Sklaverei anzuprangern, die fluchwürdige Gesetzgebung über die Auslieferung entlaufener Sklaven und die ganze jammervoll verfehlte Politik der Vereinigten Staaten von Amerika in der Sklavenfrage. Donnernder Beifall spülte wie ein reinigendes Gewitter die Diskussion über die literarische Qualität von Onkel Toms Hütte ganz einfach aus dem Saal.

In offenbar nicht abgesprochener Reihenfolge sprangen nun nacheinander mehrheitlich schwarz gekleidete Herren und Damen auf und äußerten Grundsätzliches über beziehungsweise gegen die Sklaverei: Bibelverse, Worte großer Männer, Zitate aus der Verfassung und den Klassikern, die vor allem gemeinsam hatten, dass sie ursprünglich auf alles Mögliche, aber eben nicht auf die Sklaverei bezogen waren. Diese Jubelverse hoben jedoch die Stimmung ganz beträchtlich, sah man sich doch nach einer Weile nicht mehr nur im Schulterschluss mit allen guten Menschen hier im Saal oder in Amerika, sondern in der gesamten Menschheitsgeschichte und überall auf der Welt. Die dazu notwendige Vereinfachung aller Sachverhalte, gegenwärtiger wie vergangener, führte dazu, dass man innerhalb einer halben Stunde nur noch von Gut und Böse sprach, von Richtig und Falsch, wenn auch nicht von Schwarz und Weiß. Denn schließlich gab es gute Weiße, einfach, bieder, schwarz gekleidet, und böse Weiße in eleganten Anzügen. Die schwarzen Sklaven aber waren nur noch die Verhandlungsmasse zwischen den verfeindeten Parteien, Stoff für rührende kleine Geschichten, den Hintergrund des düsteren Gemäldes, auf dem die eigene Moral so strahlend hell und gottesfürchtig hervortrat.

Nachdem man sich so eine Weile an sich selbst berauscht hatte, klangen konkrete Vorschläge an: Der Marsch nach Washington wurde verworfen – man hatte Felder zu bestellen, Handel zu treiben, Essen zu kochen, Kinder zu erziehen. Ein von allen unterzeichneter schriftlicher Protest wurde erwogen, aber dazu hätte man sich zuerst auf einen Inhalt einigen müssen, was länger gedauert und die Aufbruchstimmung zu sehr gedämpft hätte. Die Idee einer Spendensammlung war leichter zu realisieren; so etwas hatte man schon öfter gemacht. Es vermittelte einem für wenig Geld das Gefühl, etwas Sinnvolles und Gerechtes zu tun. Allerdings war zunächst nicht klar, welch hehrem Ziel die Kollekte dienen sollte.

Das in den Reihen der »Neutralen«, der einfachen Mitglieder der Literarischen Gesellschaft von St. Louis, in eine erste Begeisterungspause gezischte Wort »Ablass!« konnte dieses gute Gefühl nur ein wenig stören, nicht wirklich erschüttern. Wer hatte die ungeheure Frechheit besessen, so etwas zu sagen? Die giftigen Blicke der Erleuchteten bissen sich kurz an einem jungen Mann mit blauer Brille fest, der aber nur spöttisch lächelte, ehe eine weitere Woge von Gottesfurcht, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft ihn mitsamt seinem billigen Zynismus verschlang.

»Ein Schiff!«, sagten die Abolitionisten.

»Ein Schiff!«, griffen die Puritaner das Wort auf.

»Ein Schiff«, bestätigten leise die Quäker.

»Halleluja!«, riefen dann alle, zuerst vereinzelt, zuletzt in einem brausenden Chor.

Der Vorschlag eines Dankgebets für diesen rettenden Einfall, dieses lohnende Ziel aller propagandistischen Bemühungen, kam auf, aber nicht zustande. Ausgerechnet Miss Pringle erinnerte daran, dass dies eben die Lösung sei, mit der Harriet Beecher-Stowe ihren Roman ausklingen lasse – und man wollte, bei aller Wertschätzung, doch kein Dankgebet an eine Schriftstellerin richten.

Ein Schiff, mit dem man die befreiten oder losgekauften Sklaven nach Afrika zurückbringen würde! Während man die Sammlung vorbereitete und ehe die Frage aufkam, ob man denn genug freiwillige befreite Sklaven für einen solchen Transport zusammenbekommen würde, trat eine zweite längere Pause ein. Die Gerechten hatten sich ordentlich leer geredet, begeistert, entrüstet und hallelujat.

Diese Pause benutzte ein ungewöhnlich distinguiert wirkender Mann aus den eleganten Reihen der Südstaatler, um sich zu erheben und mit freundlichen Blicken um Aufmerksamkeit zu bitten. Die wurde ihm zuerst von den Damen geschenkt, denn seine eindrucksvolle Erscheinung, Größe, offensichtliche Höflichkeit, seine langen weißen Haare, der vertrauenerweckende silberne Bart entsprachen auf romantische Weise der Vorstellung, die man sich etwa am Pringle’schen Institut für höhere Töchter jahrelang von König Artus oder zumindest einem seiner bejahrteren Ritter gemacht hatte. Der Aufmerksamkeit der Herren, die notgedrungen irgendwann jener der Damen folgte, war deshalb anfangs ein gewisser Widerwille, ein Misstrauen beigemischt – etwa, als hätte der elegante Fremde allen anwesenden Ehefrauen unaufgefordert die Hand geküsst.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, begann er.

27.

Seit ihrer Gründung hielten sich die Stadt Melbourne und die ganze Provinz Victoria viel darauf zugute, dass sie nie eine Strafkolonie des britischen Mutterlandes gewesen waren wie Perth oder vor allem Sydney. Dieser Umstand machte das hiesige Establishment, machte Farmer, Schafzüchter, Geschäftsleute, Handwerker, Unternehmer – jedenfalls in ihren eigenen Augen – zur Crème de la Crème des gesamten Landes, und die Kampagne »Sauberes Victoria«, gegründet von diesen alteingesessenen Siedlern, hatte sich zum Ziel gesetzt, den entsprechenden Status gegen alle Widerstände beizubehalten oder wiederherzustellen, wo sie ihn bereits für beschädigt hielt. Verächtlich und misstrauisch blickte man vor allem auf die Freigelassenen, die von Sydney hergezogen waren, und strebte ein Zweiklassenwahlrecht, eine Zwei-Klassen-Einwanderungspolitik an: die gebildete Elite der Immigranten für Victoria und Melbourne, Habenichtse und Schmarotzer für den Rest Australiens. Zwar hatte der große Goldrausch von 1852 diese Denkweise vollkommen überrollt und doppelt bis dreimal so viele Leute ins Land gespült, wie vorher da gewesen waren, aber überwunden war diese spezielle Spielart des Kolonialchauvinismus noch lange nicht.