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In Jacob Edward Harewood, General einer von ihm selbst gegründeten Bürgerwehr, der seit zwei Jahrzehnten so hartnäckig im Stadtrat saß wie der Holzbock in der dortigen Wandvertäfelung, fanden diese Ressentiments einen würdigen Vorfechter. Er hatte die demagogische Gabe, sie immer wieder neu, aber immer auch so einfach zu formulieren, dass jeder Idiot sich einbilden konnte, genau das doch immer schon gesagt oder wenigstens gedacht zu haben. Wenn Harewood richtig loslegte, bebten die Pfosten der rasch errichteten Fest-und Wahlkampfzelte, in denen sich seine Anhänger schon lange vor dem Auftritt des Hauptredners in Stimmung tranken.

Entsprechender Jubel brandete auf, als der etwa sechzigjährige General sich eine Bahn durch das Zelt brach wie ein preisgekrönter Bulle und die lorbeergeschmückte Rednertribüne betrat. Da die seiner Bürgerwehr angehörenden »Ordner« stets dafür sorgen mussten, dass keine »Störer«, also Vertreter gegensätzlicher politischer Meinungen, die ersten zehn, fünfzehn Reihen unsicher machten, sah der General meist nur bekannte Gesichter vor sich sitzen, denen er die ebenso bekannten Parolen von Ordnung, Anstand, Sauberkeit ins Gedächtnis rief. So war seine gesamte Politik – wie jede Politik – letztlich nur eine Art Theateraufführung: Auf der Bühne steht ein bezahlter Mann, der so tut, als wäre er Hamlet – und vor der Bühne sitzen die zahlenden Zuschauer, die so tun, als würden sie ihm glauben.

General Harewood brauchte eine Weile, um sich warm zu reden, vermittelte dann aber jedem einzelnen seiner Zuhörer das beglückende Gefühl, nur mit ihm und für ihn zu sprechen. Das so überzeugend wirkte, weil der Mann dieser Illusion selbst anhing; er erblickte einen Bekannten und bildete sich einige Sekunden lang ein, nur für dieses eine rote, begeisterte Gesicht zu sprechen. Sein Blick glitt weiter, und der nächste Satz galt ganz dem nächsten roten, begeisterten Gesicht. Von Vorteil war dabei, dass sich die Gesichter seiner Anhänger nicht allzu sehr voneinander unterschieden, und in diesem Sinn kannte er sie alle.

Seine Ordner hatten die ausdrückliche Anweisung, wann immer sich die Gelegenheit böte, junge Damen in den ersten Reihen zu platzieren, damit der Redner etwas habe, an dem er sich aufrichten könne. An diesem Abend fiel ihm eine hübsche junge Person auf, die er noch nie auf einer seiner Versammlungen gesehen hatte, die ihm aber trotzdem bekannt vorkam. Sie saß in der zweiten Reihe, trug ein cremefarbenes Kleid und einen Hut, der in der dritten für Unmut sorgte. Als sie ihn schließlich vom Kopf nahm, kamen üppige blonde Locken zum Vorschein, und Harewood sprach länger als gewöhnlich nur zu dem dazugehörigen hübschen, aber merkwürdig strengen Gesicht.

Woher kannte er sie? Diese Frage irritierte den General. Zwar sprach er frei, aber er hatte seine Argumente schon so oft zum Besten gegeben, dass sie sich gewissermaßen von selbst abspulten, als würde er Luftschlangen in die Menge blasen.

»Was ist mit meinen Kindern?«

Zwischenrufe waren in Harewoods Reden fest eingeplant, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Schlagfertigkeit und Spontaneität unter Beweis zu stellen. Fast immer dienten sie dazu, Gegenargumente lächerlich zu machen, und der General bildete sich tatsächlich eine Menge auf seinen Witz ein, obwohl er natürlich genau wusste, wo die Zwischenrufer platziert waren und wann sie den Mund aufmachen würden.

Gelegentliche Einwürfe Unbekannter pflegte er gern zu ignorieren, meist mit der Miene und dem fatalistischen Seufzen eines Irrenarztes, der beim besten Willen nicht mehr weiß, wie dem armen Irren noch zu helfen ist. Aber jetzt stockte er, denn er glaubte plötzlich zu wissen, woher er die Frau kannte, die nach ihren Kindern gefragt hatte. Der Bruchteil einer Sekunde, in dem er sie fixierte, um diese Erkenntnis zu prüfen, genügte Gowers, der im hinteren Teil des Zelts einen Stehplatz eingenommen hatte, um seine Vermutung bestätigt zu finden.

Ehe er fortfuhr, suchten die Augen des Generals dann einen Mann, der ebenfalls am hinteren Rand der Versammlung Ordnungsaufgaben versah. Auch er, dessen ungepflegtes graues Haar in auffälligem Kontrast zu dem dunklen Anzug stand, den Harewood seinen Angestellten vorschrieb und finanzierte, stutzte und reckte den Hals, um die Zwischenruferin zu identifizieren. Er sah jedoch nur ihren blonden Hinterkopf und verließ daraufhin hastig das Versammlungszelt. Gowers folgte ihm.

»Ihre Kinder, Madame«, hörte er noch, als der General sich gefangen hatte, »und unser aller Kinder sind die Zukunft Victorias! Wir werden alles tun, um diese Zukunft besser, schöner und sicherer zu machen!«

28.

In seinen trüben Stunden – und was konnte trüber sein als eine dreitägige Flaute an Bord eines noch unbeladenen Truppentransporters – sagte sich Gustav Ferdinand von Tempsky selbstquälerisch, dass er auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit ein Dilettant war – mit der einen großen Ausnahme: dem Handwerk des Tötens, das er professionell beherrschte. Das lag weniger an seiner Ausbildung als preußischer Offizier, sondern vor allem an einer echten Begabung für den Kampf Mann gegen Mann, mit Messer und Schwert, der in seinem Jahrhundert leider weitgehend aus der Mode gekommen war. Genau genommen hatte ihn diese archaische Fähigkeit für die zivilisierteren Formen der Kriegsführung sogar disqualifiziert. Nur am Rand der bürgerlichen Gesellschaft, in den Goldgräberlagern oder eben den gelegentlichen Buschkriegen der europäischen Kolonialmächte, konnte derlei Handarbeit einem Mann noch zu Macht oder wenigstens zu Lohn und Brot verhelfen.

Er war ein hoffnungslos verspäteter Ritter, Romantiker, fahrender Sänger, gestrandet eher in der Zeit als im Raum, verschlagen nicht so sehr ans Ende der Welt, sondern ins Zeitalter von Maschine und Industrie. All seine übrigen »Berufe«, journalistisches oder gar literarisches Schreiben, das Zeichnen von Karikaturen, das Aquarellieren, betrachtete er in solchen Momenten als bloße Liebhabereien, die seiner adligen Herkunft geschuldet waren. Leider kollidierte das Wissen um diese Herkunft immer wieder mit einem geradezu bürgerlichen Arbeitsethos, das er sich in seiner Zeit als Kolonist in Mittelamerika angeeignet hatte. Auch dort ging es um profane Handarbeit: Häuser bauen, Brunnen bohren, Felder roden, Möbel tischlern – alles Dinge, die er zwar halbwegs, aber nicht sehr gekonnt beherrschte.

Der Umgang mit Feder und Pinsel fiel ihm dagegen leichter, und die dazugehörigen Künste waren ihm von Kindheit an vertraut. So vertraut allerdings, dass seine diesbezüglichen Kenntnisse seine entsprechenden Fähigkeiten weit überstiegen und ihn – wie gesagt: in seinen trüben Stunden – zu der vernichtenden Einsicht brachten, dass sein Schaffen immer dilettantisch, seine Werke stets epigonal bleiben würden. Er hatte sich auch damit abgefunden und hätte gerne und mit Freuden nur mehr gesungen, »wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«, wenn die letzten beiden Jahre nicht so hart gewesen wären. Seit seiner Entlassung als Kommandant der gefürchteten Forest Ranger hatte von Tempsky kein festes Einkommen mehr gehabt.