Sie einigten sich darauf, dass Nell für eine gewisse Summe die Kinder der Maguires aus dem Verkehr ziehen würde, bis Blampin sein Ziel, das er gegenüber dem jungen weiblichen Räuberhauptmann nie näher definierte, erreicht hätte. Danach könnte Nell dann auf eigene Rechnung ein Lösegeld in beliebiger Höhe fordern. Den Kindern selbst dürfe kein Leid geschehen.
Es war ein durchdachter Plan, aber leider hatten weder Nell noch ihre Bande sonderlich viel Erfahrung auf diesem Gebiet. So fiel ihnen kein besseres Versteck ein als ihre eigene, ohnehin schon zu enge Wohnhöhle im verwilderten Norden, und die ständige Bewachung und Versorgung der kleinen Gefangenen ging ihnen sehr bald auf die Nerven. Das alles war unbequem, brachte Nell aber auf die gute Idee, mehrmals Nachforderungen an ihren Auftraggeber zu stellen, ja gewissermaßen ihn zu erpressen.
Schließlich verlangte sie eine tägliche Zahlung, und Blampin, dem die Mittel fehlten, sah sich gezwungen, den General über die Sachlage zu informieren. Der tobte zuerst, ließ sich dann aber auf das Spiel ein – um die Kinder womöglich zu einem geeigneten Zeitpunkt von seiner Bürgermiliz befreien zu lassen. Das würde nicht nur seinen Ruf als Ordnungspolitiker festigen, sondern auch außerordentlich generös wirken.
Maguire konnte dann tun, was er wollte; sich still und leise aus der Politik zurückziehen oder aber die Entführung öffentlich machen und die Wahl gegen den Befreier seiner Kinder verlieren. Glücklicherweise tat er zunächst einmal gar nichts – außer zur Polizei zu gehen, die Harewood über alle Schritte seines Gegners auf dem Laufenden halten würde.
Von einer derartigen Verflechtung persönlicher und politischer Absichten ahnte John Gowers nur wenig, als er an diesem Abend mit Sarahs Hilfe seine Nadel in das Wespennest stieß. Und keiner der Beteiligten würde nun noch bekommen, was er wollte.
30.
Nell Fagan wartete an diesem Abend in Hays Tavern, dem letzten Hort rudimentärer Zivilisation vor der Wildnis der ehemaligen Goldfelder, auf nicht mehr als die tägliche Zahlung. Sie hatte sich erschreckend schnell an die Macht gewöhnt, die sie in den Händen hielt, und sie sowohl die Kinder als auch ihren Auftraggeber Blampin bereits mehrmals fühlen lassen. Es war ihre Idee gewesen, Mairie Maguire das lange Haar abzuschneiden, und sie hatte die Angst genossen, die das zitternde reiche Mädchen unter ihrer Schere empfand.
Auch die Schmerzen und die Scham des kleinen Jonathan taten ihr wohl; ihr Bruder Jamie hatte ihm einige Zehen gebrochen, als der Junge seine Fluchtversuche auch unter Schlägen nicht aufgab. Um ihn nicht mehrmals täglich auf den Topf setzen zu müssen, hatten sie ihm schließlich einfach die Hosen ausgezogen, und so lag der feine Bürgerknabe einen ganzen Tag lang halb nackt, frierend und weinend im eigenen Dreck. Mairie hatte dann die Erlaubnis erbettelt, sich um ihren Bruder kümmern und ihn unter ihre schäbige Decke nehmen zu dürfen, indem sie mit ihrer glockenhellen Stimme für die ganze grölende Bande Kinder-und andere Lieder sang. Wenn es nach Nell ging, konnte diese Entführung noch wochenlang dauern.
Entsprechend ungehalten war sie, als Blampin ihr sagte, dass die Sache zu einem schnellen Ende gebracht werden müsse. Es habe den Schatten einer Verdächtigung gegeben, die Kinder müssten so rasch wie möglich freigelassen werden. Sofort entstand in Nells geschäftstüchtigem Kopf der Gedanke an eine Art amerikanische Versteigerung: Sie nannte Blampin eine Summe, über die der unmöglich allein entscheiden konnte, und beschloss, von den Maguires noch eine entsprechend höhere Forderung einzutreiben.
Gowers, der die jämmerlich übervölkerte kleine Spelunke am äußersten Rand der bewohnbaren Viertel von Melbourne etwa eine Minute vor William Blampin betreten hatte, als er erkannt hatte, welches Ziel dieser ansteuerte, sah nur, dass der Mann, den er bis hierher verfolgt hatte, in ungeheure Aufregung geriet. Blampin verlor derart die Fassung, dass ihm sogar der Satz »Ich werde die Polizei einschalten!« erstaunlich laut entfuhr. Oder besser: Das Wort »Polizei« brachte das geradezu babylonische Gesprächswirrwarr in der Verbrecherkneipe mit einem Schlag zum Verstummen.
Es gibt Gasträumlichkeiten, in denen man das Wort »Polizei« bedenkenlos aussprechen kann, und es gibt solche, in denen man seine Verwendung eher meiden sollte. William Blampin merkte nun deutlich, dass Hays Tavern ein Lokal der zweiten Kategorie war. Er konnte von Glück sagen, dass die geistesgegenwärtige Nell in Gelächter ausbrach, denn seine Entgleisung als gelungenen Scherz darzustellen war unter diesen Umständen das Einzige, was sein Leben möglicherweise retten würde. Dennoch blieb die Atmosphäre gespannt und unangenehm leise, als er sich nur Sekunden später erhob, seinen Sinneswandel durch die hier nicht unbekannte Abschiedsformel »Ich werde das Geld beschaffen!« kundtat und nach draußen wollte.
Man verstellte ihm den Weg, ein Mann nahm ihm den Hut vom Kopf: »Den brauchst du dazu ja nicht.« Ein zweiter meinte offenbar, dass auch Blampins Jacke nicht vonnöten sei, um das Geld beizubringen, äußerte das aber nicht, sondern zog sie ihm ganz einfach aus. Ein dritter fand Gefallen an seinen Stiefeln. Die Hosen anzubehalten war das Einzige, dessen er sich rühmen konnte, und auch das lag vorwiegend an der erstaunlichen Geschwindigkeit, mit der er jetzt den Ort der Handlung verließ. Nell lachte immer noch.
»Geht der wirklich zur Schmiere?«, wurde sie in unterschiedlichen Formulierungen gefragt.
»Der wird sich hüten«, antwortete sie ernst und bestellte sich ein weiteres Glas Gin, um ihre Aussage durch Ruhe und Gelassenheit zu untermauern.
Es fiel dem Investigator schwer, Blampin unbeaufsichtigt ziehen zu lassen und seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die unbekannte junge Frau zu richten, die den Mann so sehr in Rage gebracht hatte. Vor allem seine anfänglichen Überlegungen über das Geschlecht des Entführers gaben ihm jedoch die Sicherheit und die Geduld, bis kurz vor Mitternacht darauf zu warten, dass Nell Fagan das Lokal verließ.
Obwohl sie betrunkener war, als er glaubte, blieb sie auf ihrem Weg in die Tiefen der Geisterstadt immer wieder stehen und drehte sich um, um zu sehen, ob jemand ihr nachkam. Glücklicherweise hatte sie aber nicht Gowers’ Augen, der sie nun am äußersten Rand seiner Nachtsichtigkeit verfolgte. Nach fast einstündigem Fußmarsch durch die Weiten des großen Labyrinths blieb sie dann plötzlich verschwunden, und der Investigator wusste, dass sie unter die Erde gegangen und das Versteck nahe war.
So vorsichtig wie möglich schlich er bis zu dem Punkt, an dem er sie zuletzt gesehen hatte, und schloss dort die Augen, um zu hören und zu riechen. Aber er stand noch keine fünf Minuten so da, als eine helle, zitternde Mädchenstimme »Come all ye gallant poachers« anstimmte. Er ging der Stimme nach, bis er zwischen zwei Schuttkegeln eine dunkle Öffnung in der Erde sah, deren Ränder seltsam flackerten. Das musste eine Art Vorhang sein. Gowers überlegte, wie viele Gegner ihn dahinter maximal erwarten konnten, zog dabei aber bereits seine Jacke aus und streifte im Gehen den eisernen Totschläger über.
31.
»Es gehört zu den Errungenschaften unserer großen Nation«, sagte der weißhaarige Redner mit einer pathetischen Geste, »dass ein Mann in einer Versammlung von Menschen, die sich einstimmig und leidenschaftlich für eine bestimmte Meinung aussprechen, dass ein einzelner Mann inmitten dieser Versammlung Gleichgesinnter aufstehen und sagen kann: Ich bin anderer Ansicht! Die Kaiser und Könige im alten Europa, die Päpste und ihre Inquisition würden einen solchen Mann hängen, und auch wir Amerikaner, geben wir’s nur zu, sind zumindest verärgert über den Mann!«