Erhebliche Unruhe bemächtigte sich der Versammlung während dieser letzten Ausführungen, und endlich fanden einige führende Abolitionisten die willkommene Gelegenheit zu Zwischenrufen.
»Unsinn!«, riefen sie und: »Separation!«
Insgeheim spürten sie, dass Lemuel Willard ihnen gerade eine der wichtigsten Waffen des Fanatismus aus den Händen wand und gegen sie in Stellung brachte: die Angst!
Wenn Fanatiker Ängste schüren, tun sie das lauthals, peitschen sich und ihre Zuhörerschaft hoch, und das Ergebnis ist eine lärmende, primitive Angst, die Angst des Mobs, die rasch zuschlägt und sich ebenso rasch zerstreut. Wenn aber ein offensichtlich vernünftiger, klug argumentierender Mann die Alpträume seiner Zeit beschwört, schleicht sich die Angst leise, lähmend ins labile Haus des bewussten Denkens und verlangt dort ein bleibendes Wohnrecht.
32.
Vier der Anwesenden waren während all dieser Vorkommnisse und Debatten noch ganz anders, nämlich miteinander beschäftigt – wenn es auch nicht alle von ihnen wussten. Dorothy Simpson, älteste und daher am längsten unverheiratete Tochter des literarisch nur mäßig, aber gesellschaftlich umso stärker interessierten Anwalts, warf immer wieder verstohlene Blicke auf den jungen John Gowers, der in seiner fadenscheinigen Lotsenkleidung ohnehin nicht in diese Versammlung passte, ehe er sich eben mit dem Wort »Ablass« endgültig zu ihrem Paria gemacht hatte.
Unter dem höchsten Siegel der Verschwiegenheit hatte die stark romantisch veranlagte, stark auf die dreißig zugehende junge Dame ihren besten Freundinnen bereits gestanden, dass ein Einverständnis bestehe; aber zu mehr als ein paar – allerdings sehr aufregenden – Küssen in der Dämmerung eines kleinen Parks hinter der Bibliothek hatte dieses Einverständnis noch nicht geführt. Zwar wusste sie, in welchem der schäbigeren Hotels von St. Louis John Gowers abstieg, wenn er in der Stadt war, denn sie war ihm, ganz zu Anfang ihres Interesses, heimlich einmal nachgegangen, hatte seine Einladungen, ihn dort zu besuchen, aber selbstverständlich jedes Mal abgelehnt.
Erst würde er sich erklären müssen, einen Plan ausarbeiten, mit dem man das skandalöse Verhältnis ihren Eltern zumindest nahebringen könnte, und natürlich seinen Beruf als Lotse aufgeben. Dann noch ein, zwei Jahre als seriöser möblierter Herr in einer gut geführten Pension, vielleicht eine Bürotätigkeit in einer Reederei, ein paar Anzüge, Schuhe, ein vernünftiger Haarschnitt natürlich – und niemand würde mehr auf die Idee kommen, Dorothy eine alte Jungfer zu nennen. Sie errötete heftig, als ihr sechs Jahre jüngerer Freund sich in die komplizierten Vorgänge des Abends einmischte, und ihr Herz schlug wild, entsetzt, erfreut über seine Kühnheit, fast wie ein blinder Passagier in ihrer Brust. Was für ein unmöglicher, aufregender Mann!
John Gowers wusste wenig von diesen Gefühlswallungen; hatte beiläufig registriert, dass Dorothy da war, sich an ihre weichen Lippen, ihre schüchterne Zunge, den angenehmen Geschmack in ihrem Mund erinnert und sich dann wieder auf den sozialen Sturm konzentriert, der ihm nach seiner Äußerung ins Gesicht pfiff. Er lächelte, während sein Blick wach über die entrüsteten Mienen seiner vielen Gegner glitt – und blieb dann hängen an den alten Augen eines Mannes, der in der Tür stand und sein Lächeln erwiderte, ihm sogar leicht zunickte. Er hatte den Mann schon einmal gesehen und durchforstete den enormen Schatz seiner Gedächtnisbilder nach diesem Gesicht. Sheperd! Er hatte diesen Mann einmal im Gespräch mit Mrs. Sheperd gesehen und wusste sofort wieder, dass der ihm auch damals zugenickt hatte, während die zweite Vorsitzende der Literarischen Gesellschaft wie ertappt den Blick senkte. Hatten sie über ihn geredet?
Der Schießpulverfabrikant John Lafflin musterte den jungen Lotsen sehr genau, und was er sah, gefiel ihm. Seine kecke Bemerkung ließ ihn sogar ein wenig schmunzeln. Er war nun fast völlig sicher, seinen Mann gefunden zu haben, und bemerkte nicht, dass er selbst beobachtet wurde.
Es war der unauffällige kleine Nordstaatler am Rande der Willard-Gruppe, dem von Anfang an keine Regung unter den Anwesenden entgangen war. Zwar bemühte er sich, jede Emotion auszuschließen, die sich zwischen seine Wahrnehmung und seinen analytischen Verstand schieben wollte, aber er konnte manchmal nicht anders, als sich an Doktor Willards Vorstellung zu ergötzen.
Er war ihm unter regem Gelächter als mittelmäßiger Arzt, aber begnadeter Redner vorgestellt worden, den man zu Propagandazwecken auch schon in die Territorien Kansas und Nebraska geschickt hatte – wo nach Ansicht der Großgrundbesitzer die Sklavenfrage entschieden würde. Beale hatte den Doktor zunächst für einen Idioten gehalten, der arrogant genug war, vorher anzukündigen, was er wann, wie und warum sagen und wie das Publikum reagieren würde. Nun lief der Mann mit der Präzision eines Uhrwerks ab, und während nacheinander jeder Punkt seiner Vorhersage eintraf, verwandelte sich Gabriel Beales Skepsis in ehrlichen Respekt. Seine Anerkennung galt einfach einem Meister seines Fachs, und das umso aufrichtiger, als er selbst ein Meister seines Fachs war.
Keiner der entrüsteten Sklavereigegner würde seinen Auftraggebern ernsthaft gefährlich werden, nur in der Masse stellten sie eine gewisse Bedrohung dar, so wie jede Menschenmasse eine Gefahr ist, wenn sie wörtlich oder sprichwörtlich in Bewegung gerät. Diese Dinge ließen sich kalkulieren. Aber in keinem der bärtigen, blassen, erregten Gesichter fand er auch nur die Spur eines Geheimnisses, einer Verschwörung – und einer Verschwörung war Gabriel Beale auf der Spur. Nur aus diesem Grund waren die meisten seiner Klienten persönlich anwesend, nur aus diesem Grund hatten sie Willard geschickt. Beale wusste, dass die Drahtzieher der Verschwörung aus St. Louis kamen, aber er kannte keine Namen und kein Gesicht, bis er den alten Mann sah.
Er hätte nicht sagen können, was John Lafflin verdächtig machte, vielleicht ein Blick, eine Haltung, die reservierte Aufmerksamkeit, mit der er das Geschehen verfolgte. Dennoch spürte Beale deutlich, dass dieser Mann etwas verbarg, fühlte es irgendwo in seinem Bauch, seiner Brust: ein Gefühl, das nicht immer zu etwas führte, aber ihn noch nie getrogen hatte. Herauszufinden, wer und was der Mann war, würde Routine sein. Gabriel Beale war Privatdetektiv.
33.
Inseln waren von jeher beliebte Schauplätze der Weltliteratur. Ihre geografische Ambivalenz, also ihre Überschaubarkeit einerseits und ihre Abgeschiedenheit andererseits, machte sie zur idealen Projektionsfläche für Träume, Sehnsüchte, Abenteuer, Gedankenexperimente und – spätestens seit Robinson Crusoe – der bürgerlichen Angstlust.
Zunächst nur auf Seemannsgarn und Schiffermärchen zurückgehende exotische Bühnen, auf denen die Naturgesetze aufgehoben waren und die von entsprechend seltsamen Wesen, Feen, Zyklopen, Baumfrauen, Sirenen bewohnt wurden, mit denen sich Lukian und Shakespeare, Sindbad und Odysseus herumschlagen mussten, machten kulturmüde Theoretiker, Philosophen, die Insel zum sprichwörtlichen Utopia, zum Nicht-Ort. Atlantis, Kythera, Avalon, Taprobana, die Insel der Seligen – überall, wo man nicht war und nicht hinkonnte, war das Leben besser, schöner, gerechter und, spätestens seit Bougainvilles Reisebericht über die Südseeinseln, auch sexuell freudvoller.
Daniel Defoe kommt das Verdienst zu, die Insel zumindest literarisch zum Exerzierplatz zivilisatorischer Tugenden und Gegenstand ihrer Bewährung gemacht zu haben. Schon sechs Generationen kleiner Jungen waren – Rousseau sei Dank – mit Robinsons Insel im Kopf zu selbstbewussten Bürgern und tüchtigen Kolonialisten herangewachsen.