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»Singen, hab ich gesagt!«

Mairie wusste, dass längeres Überlegen nur Ohrfeigen nach sich ziehen würde, und sang ein Lied, mit dem sie in dieser Gesellschaft schon großen Erfolg gehabt hatte und das die jungen Frauen und Männer, manche kaum ein Jahr älter als sie, irgendwie milde zu stimmen schien. Es ging um Tom Brown, Jack Williams und den armen Joe, die in Schottland als Wilddiebe verhaftet und nach Australien deportiert worden waren, wo sie nun gegen Wölfe und Tiger kämpfen mussten. Natürlich wusste jedes Kind, dass es in Australien weder Wölfe noch Tiger gab, überhaupt keine großen Raubtiere, wenn man von Krokodilen und Dingos absah, die sich allerdings nur schwer reimen ließen.

Sie war in der achtstrophigen Ballade auch noch gar nicht bis zu dem entsprechenden Vers gekommen, als James Fagan sich plötzlich alarmiert aufsetzte.

»Was war das?«, fragte er, bekam aber keine Antwort, denn im gleichen Moment geschahen zu viele Dinge.

Mairie Maguire sah flüchtig, dass ein Mann in den Keller sprang und mit einem Tuch oder einer Jacke nach der kleinen Öllampe schlug, die neben dem nur noch glimmenden Herdfeuer den Raum erhellte. Die Lampe erlosch gleich darauf, und das restliche Licht war zu schwach, um erkennen zu können, was innerhalb der nächsten ein, höchstens zwei Minuten im Einzelnen geschah. Sie hörte Schreie aus vielen Kehlen, Schreie nach Licht – das war Jamie Fagan –, Schreie der Wut – Nell –, der Ratlosigkeit – Onkel Sam Fagan, soeben aus wirren Träumen hochgeschreckt, die er indes für noch nicht ganz beendet hielt – und zu Mairies Überraschung auch bittere Schmerzensschreie, die sie den einzelnen Bandenmitgliedern aber nicht genau zuordnen konnte.

»Licht! Licht! Fasst ihn! Ich hab ihn! Wo ist das Schwein? Scheiße! Mich hat’s erwischt! Was ist hier los?«

Instinktiv kauerte sie sich auf den Boden, tastete nach hinten, nach ihrem Bruder; aber im gleichen Moment, in dem sie ihn gefunden hatte, fühlte sie, dass sie hochgehoben wurde.

»Jonathan!«, rief sie angstvoll. »Jon!« Und hörte dann dicht neben sich seine Stimme. »Ich bin hier.« Offenbar wurde er mit ihr fortgetragen. Sekunden später fühlte sie zum ersten Mal seit acht Tagen Wind in ihrem Gesicht, frische Nachtluft, die ihre Lunge nach der langen Zeit in dem stickigen, stinkenden Keller wie ein Faustschlag traf.

Gowers, der einen letzten unbekannten Verteidiger der Diebeshöhle mit einem Fußtritt hinter sich stieß, hatte den ledernen Vorhang nur wie eine leichte Ohrfeige in seinem Gesicht gespürt, als er mit den Kindern hinausstürmte. Sofort begann er, mit lauter Stimme Kommandos in die Nacht zu brüllen.

»Legt an, Jungs, und aufgepasst! Der Erste, der seine Nase rausstreckt, wird abgeknallt! Wir warten, bis es hell ist!«

Mairie Maguire blickte sehr verwirrt um sich, und als sie niemanden sah als einen unbekannten Mann und ihren Bruder, keine Soldaten, keine Polizei, überhaupt niemanden, starrte sie ihren Retter mit weit aufgerissenen Augen an und fürchtete, einem Verrückten in die Hände gefallen zu sein.

»Kannst du rennen?«, flüsterte der Verrückte, und Mairie sagte: »Ja, aber mein Bruder …« Gowers hatte den Jungen allerdings schon heruntergelassen, wo er mit einem Schmerzensschrei sofort auf die Knie fiel. Er hob ihn wieder auf, warf ihn über seine Schulter, wobei er notgedrungen zum ersten Mal seine Nacktheit registrierte, und zog an der linken Hand das Mädchen eilig mit sich fort, denn er wusste, dass sein Bluff allenfalls für ein paar Minuten funktionieren würde.

In der Höhle hatte James Fagan inzwischen die Lampe gefunden und das Licht wieder entzündet. Er sah, dass seine Schwester aus Mund und Nase blutete wie ein Schwein.

»Rennt ihm nach! So rennt ihm doch nach!«, schrie sie, und die Worte schlugen rote Blasen auf ihren Lippen.

Es war allerdings unmittelbar niemand bereit oder in der Lage, ihrem Befehl Folge zu leisten. Onkel Sam hatte sich nach einem heftigen Schlag auf den Hinterkopf wieder schlafen gelegt und träumte nun womöglich noch unruhiger als vorher. Cousin Billy rieb sich entsetzlich zusammengekrümmt und stöhnend den Unterleib, Cousin Joe lag japsend am Boden und bekam anscheinend nicht genug Luft in seine gestauchte Lunge, einige Cousinen starrten jammernd und ungläubig auf die Kratzwunden, die sie sich im Dunkeln gegenseitig zugefügt hatten. Nur Jamie selbst war offenbar geistesgegenwärtig genug gewesen, sich auf den Boden zu werfen, und bis auf ein paar Tritte, die über ihn hinweggegangen waren, unverletzt geblieben.

Nell Fagan raste vor Wut, war aber zu sehr mit dem Schlucken ihres eigenen Blutes beziehungsweise der Identifikation einzelner Zähne beschäftigt, die in ihrer Mundhöhle schwammen, um den Eindringling persönlich zu verfolgen. Am Eingang zur Höhle fand Jamie seinen Cousin Lionel, ebenfalls leicht verletzt, in zähe, weil sehr einseitige Übergabeverhandlungen mit den »Belagerern« verwickelt.

»Was soll das?«, fragte der Unterhäuptling. »Mit wem sprichst du?«

»Soldaten«, flüsterte Lionel. »Soldaten und Polizei! Ich hab deutlich gehört, wie sie ›Legt an!‹ gesagt haben. Nicht schießen!« , brüllte er dann so plötzlich, dass James Fagan zusammenfuhr. »Nicht schießen, um Gottes willen! Wir kommen freiwillig raus.«

Das schüchterne Angebot wurde allerdings zum wiederholten Mal keiner Antwort gewürdigt.

»Gottverflucht!« Nell war hinter sie getreten. Um ihr zerschlagenes Gesicht hatte sie die Fetzen eines alten Unterrocks gewunden, der nun langsam durchblutete, und in den Händen hielt sie einen Revolver; die einzige ernsthafte Waffe der Bande, die aber eben im Dunkeln weder gefunden noch benutzt werden konnte. »Warum rennt ihr ihm nicht nach?«

»Soldaten!«, wisperte Lionel und holte schon Luft, um noch einmal die bedingungslose Kapitulation anzubieten, als Nell ihn beiseitestieß.

»Schwachsinn!«, sagte sie. »Der Kerl war allein.«

Sie schlug den Vorhang hoch, gab Cousin Lionel aber nicht viel Zeit, um sich angesichts der gähnenden Leere der Nacht zu genieren, sondern organisierte die Verfolgung mit bemerkenswertem Verständnis für die Sache. »Kein Licht«, befahl sie, als die Cousinen Fackeln entzünden wollten. »Dann sieht er uns, aber wir ihn nicht! Schwärmt lieber aus. Wer ihn findet, schreit. Er kann noch nicht weit sein!«

Gowers war in der Tat keine fünfhundert Meter entfernt und wusste, als er die Geräusche der Verfolger in seinem Rücken hörte, dass er mit den Kindern, dem verletzten Jungen zumal, auch nicht weit kommen würde. Mairie weinte vor Angst und wünschte sich Wölfe und Tiger anstelle Nell Fagans auf ihrer Fährte.

Der Investigator blickte sich immer öfter um, und was er sah, beunruhigte ihn. Über diversen Schutthügeln, auf Mauerresten tauchten immer mehr und immer näher zerlumpte Gestalten auf und starrten in die Nacht. Noch schützte sie die Dunkelheit, aber je dichter die Verfolger herankamen, desto unsicherer wurde dieser Schutz, besonders, wenn weite, offene Flächen zu überqueren waren.

Er wusste, dass ihm keiner aus dieser jämmerlichen Räuberbande einzeln im Kampf überlegen war, aber der Überraschungseffekt war nun dahin und gegen die Übermacht würde auch er sich nicht lange behaupten können. Es war auch nicht klar, welche Waffen sich die Entführer inzwischen beschafft hatten. Ein Versteck zu suchen und sich einzugraben wäre ebenfalls riskant, denn obwohl sie sich zu beherrschen versuchte, konnte Mairie ein Schluchzen nicht immer unterdrücken. Auch der Junge auf seiner Schulter stöhnte leise.

Als Gowers einmal kurz anhielt, um seine Last zurechtzurücken, sagte Jonathan plötzlich: »Lassen Sie mich hier, Sir. Lassen Sie mich hier und rennen Sie mit Mairie weiter. Ich werde sie herlocken, und das wird Ihnen einen Vorsprung verschaffen.«

Es war ein tapferer Vorschlag, tapferer, als Gowers ihn von einem so kleinen Kerl ohne Hosen erwartet hatte, und für ein paar Sekunden erwog er sogar, ihn anzunehmen. Dann sah er die Lichter, Fackeln, kleine sich bewegende Punkte in der Nacht, weit voraus. Während er weiterlief, überlegte er fieberhaft.