Es musste Blampin sein, vielleicht mit Teilen der Bürgermiliz, wahrscheinlicher mit einigen Beamten der Victorian Police. Vermutlich hatte er versucht, Nell in Hays Tavern verhaften zu lassen, und sich dann auf ihre Spur gesetzt. Aber wer und was sie auch immer waren, die Lichter würden die Verfolger zurücktreiben. Doch wie den Lichtern entkommen?
37.
Mrs. Emma Lafflin, eine zierliche Dame von Anfang fünfzig, war es gewohnt, dass ihr über zwanzig Jahre älterer Gatte bisweilen auch noch am späten Abend seltsame Menschen mit nach Hause brachte. Indianer, Mulatten, entlaufene Lehrlinge, Landstreicher jeden Alters, Wanderprediger – sie alle fanden im Haus des Pulverfabrikanten in der Collins Avenue 24 zumindest für eine Nacht gastliche Aufnahme und ein Bett – das man allerdings manchmal gründlich entlausen musste, weil die Gäste ihres Mannes nicht immer ganz allein kamen, obwohl John Lafflin insgeheim ein Auge auf die Sauberkeit seiner neuen Bekanntschaften hatte. Auch Trunkenbolde oder Bettler kamen ihm nicht ins Haus. Das Einzige, was seine Gäste miteinander verband, waren gemeinhin eine Existenz am Rande der Gesellschaft und Lebensschicksale, die so farbig waren, dass Emma schon seit vielen Jahren keinen Roman mehr gelesen hatte. Ihre Romane kamen ins Haus und erzählten sich selbst.
Die meisten dieser ruhelosen Männer zogen nach einem guten Frühstück weiter, aber manchen verschaffte ihr Mann auch Anstellungen in den Fabriken und Handwerksbetrieben von St. Louis. Am geheimnisvollsten waren einige wenige alte Männer mit Landschaften anstelle von Gesichtern, die – zuletzt nur noch selten – stets nach Einbruch der Dunkelheit kamen und noch vor Morgengrauen wieder verschwanden und ihren Mann mit »Kapitän« anredeten, wenn sie glaubten, dass Emma es nicht hörte. Einer von ihnen war hier im Haus gestorben, und zum einzigen Mal in ihrem Eheleben hatte sie Tränen der Trauer in Johns Augen gesehen.
Der junge Mann, den er diesmal heimbrachte und der selbst bei Tisch seine blaue Brille nicht abnahm, war für Mrs. Lafflin also keineswegs die sonderbare Bekanntschaft, für die er sich selbst vermutlich hielt. Nach einem späten Abendessen, das unter Geplauder über den Mississippi und New Orleans vonstattengegangen war, zündeten die Männer sich Zigarren an, und obwohl sie, anders als in den meisten Haushalten des Südens, ohne Weiteres hätte bleiben können, zog Emma es vor, zu Bett zu gehen, als ihr Gatte sagte: »Ich bin Sozialist, Mr. Gowers.« Seit er vor einigen Jahren die Internationale Arbeitervereinigung von St. Louis gegründet hatte, der allerdings außer ihm selbst und seinem besten Freund, dem Maler De Franca, niemand angehörte, kannte sie das Gespräch, das jetzt folgen würde. Oder zumindest den Anteil, den ihr Mann daran hatte.
»Wissen Sie, was Sozialismus ist?«
»Ich habe davon gehört«, sagte John Gowers höflich. »Die Franzosen haben ihn erfunden, nicht wahr?«
Lafflin schmunzelte. »Den Sozialismus hat niemand erfunden, Mr. Gowers. Einige haben ihn als richtig erkannt und beschrieben, hier und da wurde auch schon versucht, ihn umzusetzen. Sozialismus ist im Kern der Gedanke, die Ungerechtigkeit unter den Menschen zu beseitigen, indem man die Eigentums-und Arbeitsverhältnisse reguliert.«
»Sie meinen: anders reguliert, Sir«, erwiderte John. »Anders als jetzt. Denn geregelt sind sie ja mehr oder weniger.«
»Geregelt im Sinne der Besitzenden, ja. Und deshalb so geregelt, dass sich der Besitz einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit immer stärker vergrößert. Der Sozialismus will das ändern, Mr. Gowers.«
»Daran sind schon die Gracchen gescheitert, Sir.«
Lafflin hob verwundert die Augenbrauen. Er war vor zehn Jahren ins alte Europa gereist, um in London, Amsterdam, Brüssel und Paris die Theoretiker des Sozialismus persönlich kennenzulernen. Da diese mehrheitlich aus ihren Heimatländern exilierten Leute gerade in den 1840er-Jahren dabei waren, ihren revolutionären Gedanken eine historische Dimension zu geben, waren ihm in den Diskussionen und Vorträgen immer wieder die Bodenreform der Gracchen und die von ihr ausgehende Revolution der römischen Republik begegnet. Dass ein Mississippilotse, noch dazu ein so junger Mann, anscheinend mit diesen Zusammenhängen vertraut war, weckte in ihm den Verdacht, dass John Gowers mehr über den Sozialismus wusste, als er gesagt hatte. Denn wie alle, die erst spät und über Umwege zur Geschichte gefunden haben, glaubte Lafflin, die Quellen seiner Erkenntnisse seien wenn nicht die einzigen, dann doch die maßgeblichen, und wusste nicht, dass man auch bei Gibbon, McCauly und Carlyle etwas über die Gracchen erfahren konnte.
»Dadurch wird der Gedanke ja nicht falsch«, sagte er vorsichtig.
»Nein, Sir«, stimmte John zu, »nur seine Durchführbarkeit steht infrage.«
»Dann meinen Sie, dass man sich mit den Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich einfach abfinden sollte?«
»Sagen wir, ich glaube nicht, dass irgendeine Lehre oder Staatsform diese Ungerechtigkeit dauerhaft beseitigen kann. Das kann nur jeder für sich.«
Schweigend paffte der eigenartige Schießpulverfabrikant eine Weile vor sich hin, ehe er die entscheidende Frage stellte: »Nicht auch für andere?«
John überlegte. »Das ist verdammt gefährlich und hat nur geringe Aussichten auf Erfolg. Und es wird schwieriger mit jedem, den man auf diesem Weg mitnehmen will.«
Endlich fand Lafflin sein Lächeln wieder. »Nun, Mr. Gowers«, sagte er, »ich habe nicht behauptet, dass Sie etwas Einfaches für mich tun sollen!«
»Worum geht es, Sir?«, fragte John, der dieses Spielchen allmählich leid war.
»Was wissen Sie über Barataria?« Lafflin drückte seine Zigarre aus und beugte sich zu dem jungen Mann hinüber.
»Wenig«, antwortete John. »Ein paar alte Cajuns erzählen gelegentlich davon. Vor fünfzig Jahren war es so eine Art Schmugglerkönigreich in den Sümpfen vor New Orleans.«
»Republik«, widersprach der alte Mann, »Schmugglerrepublik, Mr. Gowers. Ansonsten stimmt das so weit. In Barataria sitzen einige Dutzend Leute fest, die ich nach Norden bringen möchte. Das Problem ist, dass sie nicht gesehen werden dürfen.«
»Ich verstehe, Sir«, sagte John. »Auf dem Fluss kann ich das weitgehend garantieren. Nur den Weg nach Barataria kenne ich nicht.«
»Aber ich«, erwiderte John Lafflin.
38.
Nell Fagan sah so schrecklich aus in ihrem Zorn, den blutigen Fetzen Stoff um ihr halbes Gesicht gewunden, die Pistole in der Hand, dass ihren eigenen Leuten grauste.
»Da sind sie!«, rief Cousine Gwynn und hüpfte auf einem Schuttkegel auf und ab. »Hier! Hierher! Da sind sie!« Sie zeigte auf einen rasch voraneilenden Schatten, eine Spur dunkler als die Nacht.
Als die Bande ein Ziel hatte, bewegte sie sich deutlich schneller und koordinierter, aber kaum hatte sie ein Ziel, als Cousin Marcus, schneller auf den Füßen als alle anderen und ihnen mehr als ein Dutzend Meter voraus, auch schon warnte: »Schmiere! Da vorn!«
Der Anblick der Fackeln, noch weit entfernt, aber stetig näher kommend, brachte die Verfolgung der Flüchtigen zum Erliegen. Nur Nell und ihr Bruder liefen noch ein Stück weiter, und als sie keine dreißig Meter mehr von Gowers und den Kindern entfernt waren, nahm die Anführerin die Waffe in beide Hände, zielte und schoss.