William Blampin hatte auf Geheiß General Harewoods die Polizei alarmiert und auf gut Glück in die Richtung geführt, in die er Nell eines Abends einige Kilometer weit nachgegangen war – bis sie ihn bemerkt und ihm voller Hohn und Verachtung ihren nackten Hintern gezeigt hatte. Langsam und ohne große Hoffnung dirigierte er also die Beamten, die nur höchst widerwillig in das unwegsame Räuberterritorium eindrangen, nach Norden.
Immer wieder musste er auf seine Autorität als leitender Angestellter eines führenden Mitglieds des Stadtparlaments pochen, das lohnen, aber auch strafen könne, und gerade hatte sich dieses Argument endgültig erschöpft, als ein Schuss fiel. Nun waren Schüsse nicht eben etwas, was den Ermittlungseifer der Victorian Police anspornte. Solange man nicht wusste, auf wen oder was geschossen wurde, hüteten sich die Beamten im Allgemeinen sogar, sich in derartige Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit einzumischen.
Ein Schuss konnte hier draußen sonst was bedeuten; aber der Harewood-Mann schien sehr klare Vorstellungen oder Befürchtungen davon zu haben, was da vorging, und rannte jetzt wie ein Wahnsinniger in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Nicht auszudenken, wenn der Mann in und unter dem Schutz der Polizei zu Tode kam! So liefen die Beamten notgedrungen hinterher, zogen nun ihrerseits die Pistolen und feuerten in die Luft – nicht um irgendetwas zu treffen, sondern im Gegenteiclass="underline" um alles, was ihnen ausweichen konnte, auch zum Ausweichen zu veranlassen.
Poll Hunley hatte sich in ihre Höhle zurückgezogen und war gerade eingeschlafen, als draußen die Knallerei begann. Das war ungewöhnlich. In den ehemaligen Goldfeldern arbeiteten selbst Meuchelmörder normalerweise mit Messern oder fantasievolleren Hieb-und Stichwaffen. Sie lauschte entsprechend angespannt, würde aber den Teufel tun und hinausgehen, um nachzuschauen, was los war. Poll machte sich klein in ihrem Drahtkäfig und duckte den Kopf nur noch ein wenig tiefer, als sie leise knirschende Schritte in dem Gemäuer über sich hörte.
»Poll«, ertönte leise eine Stimme. Aber das war ja nicht möglich. Niemand kannte ihre Zuflucht, fand den Eingang in diesen Keller – und selbst als sie schon hörte, wie mit leisem Kratzen und Scharren die Balken über der Treppe bewegt wurden, rührte sie sich nicht.
»Poll!« Noch einmal, unmissverständlich. Jemand kam in den Keller, mehr als einer, sie hörte es an den Schritten. »Ich bin’s.« Wieder diese Stimme, und nun endlich kam sie der zusammengekauerten Hure bekannt vor.
»Yankee?«, fragte Poll leise.
»Ich bringe dir jemanden«, antwortete John Gowers, »und für fünf Pfund will ich keinen Laut von dir hören, bis ich komme und sie wieder abhole. Sind sie weg, bist du tot. Ist das klar?« Er hob das Gitter hoch und drängte zwei verängstigte kleine Wesen in ihre Arme. »Das gilt auch für euch«, sagte er dann. »Kein Laut und keine Bewegung, bis ich euch hole!«
Der Drahtkäfig schloss sich wieder, der Eingang wurde vorsichtig verbarrikadiert. John Gowers war weg. Poll tastete behutsam über einen offenbar kahl geschorenen kleinen Kopf, der bei dieser Berührung zurückzuckte, fühlte dann einen nackten, eiskalten Kinderschenkel.
»Wer sind Sie?«, fragte eine Jungenstimme.
»Ich bin die Frau, die fünf Pfund bekommt, wenn ihr still seid«, knurrte Poll leise. »Also seid gefälligst still! Wenn ihr ein Trippeln hört, denkt euch nichts dabei. Das sind nur die Ratten.« Und die Ratten kamen.
39.
Selten war eine Befragung so einfach und so ergiebig, ja geradezu erschöpfend gewesen. Der Detektiv stellte eine Frage – und eine zehnminütige Flut von Informationen, Anekdoten, Witzen und Namen brach über ihn herein. Er stellte – »Nicht bewegen, bitte!« – die nächste Frage, und das Spiel wiederholte sich. Andrew De Franca redete wahrhaftig wie ein Friseur, nur dass er nicht hinter, sondern vor seinen Kunden stand, denn er war Maler.
Gabriel Beale hätte sich gerne Notizen gemacht, er hielt ja sogar eine Schreibfeder in der Hand, aber das dazugehörige Tintenfass war leer, und den kleinen Bogen Papier auf dem Schreibtisch vor ihm identifizierte er bei näherem Hinsehen als die Rechnung einer chinesischen Wäscherei. Er besaß indes die Fähigkeit, wichtige von unwichtigen Informationen schon beim ersten Hören voneinander trennen zu können, und immer, wenn etwa das Wort »Sozialismus« fiel, ließ er nicht nur seine Augen, sondern auch seine Gedanken über die etwas überladenen, aber durchaus geschmackvollen Frauenakte wandern, die in Öl und Goldrahmen an der gegenüberliegenden Wand hingen.
Manchmal amüsierte ihn die Vorstellung, wie er so stocksteif dasaß. Die Heiterkeit stieg hoch in seine Kehle, überzog seine Wangenknochen und warf Fältchen rings um seine Augen, ohne dass sie wirklich zu einem offenen Lachen geworden wäre. Er hatte in seinem Berufsleben ja schon vieles machen müssen, aber das hier eben noch nicht. Gabriel Beale saß Modell.
Der Künstler, Andrew De Franca, konnte sich zwar nicht vorstellen, warum ein Mann mit einem Gesicht wie der vor ihm sitzende Mr. Dorset, Farmgeräte & Saatgut en gros, auch noch ein Porträtgemälde von sich anfertigen ließ, denn eigentlich hätte ihm jeder Blick in den Spiegel zur Erkenntnis der grausamen Wahrheit vollauf genügen müssen. Aber De Franca nahm sowohl seine Aufgabe als auch seine Kundschaft ernst. Er schönte, er glättete, aber er log nicht, und so blieb der Charakter der Porträtierten stets sichtbar. Sie sahen sich gewissermaßen so, wie sie vielleicht an strahlend schönen Sonntagen aus besonders günstiger Perspektive tatsächlich gelegentlich aussehen mochten.
De Franca malte also, sagte er sich philosophisch, so etwas wie die platonische Idee hinter den Dingen, durch die Dinge hindurchschimmernd, und so sollte auch die ihm unbekannte Mrs. Dorset nicht einfach den Mann sehen, der ihr jeden Morgen beim Frühstück gegenübersaß, sondern gewissermaßen Gottes Idee dieses Mannes und alles, was dieser Mann in bester Laune und Beleuchtung sein konnte. Das war in diesem Fall nicht einfach, denn Mr. Dorset hatte ein ausgesprochen uninteressantes, ein Dutzendgesicht, in dem nur seine hellen Augen als zu lebhaft und zu wach für einen Farmgeräte-&-Saatgut-Händler auffielen.
Auch seine vielen Fragen waren ungewöhnlich, aber De Franca liebte es, bei der Arbeit möglichst über andere Dinge zu sprechen; es half ihm, sich zu konzentrieren. Dass sich die Fragen fast ausschließlich auf seinen Freund John Lafflin bezogen, verwunderte den Maler dagegen nicht, denn Mr. Dorset hatte gesagt, dass er John vor einigen Tagen kurz kennengelernt hatte – und damit war der Pulverfabrikant der einzige gemeinsame Bekannte von Künstler und Klient und spielte notgedrungen die Hauptrolle in ihrer etwas einseitigen Konversation.
Wie er selbst Mr. Lafflin kennengelernt hätte? Er habe ein Gemälde von Mrs. Lafflin gefertigt, und man sei sich, nach anfänglichen Missverständnissen, über die gemeinsame Begeisterung für die Idee des Sozialismus nähergekommen. Mr. Lafflin sei sehr bewandert in den verschiedenen Theorien und Spielarten dieses großen Gedankens, sei sogar in Europa gewesen und habe die führenden Köpfe der neuen Bewegung persönlich kennengelernt. Er betrachte sich gewissermaßen als einen Mäzen des Sozialismus und habe zweien dieser jungen Männer sogar beim Druck eines kleinen Traktats finanziell unter die Arme gegriffen: Das kommunistische Manifest, von einem gewissen Engels und – wie hieß noch der andere? Sehr interessante Gedanken. Er, De Franca, habe noch ein gutes Dutzend Exemplare der kleinen Schrift, die John Lafflin damals in einer großen Kiste nach Amerika einführte. Falls Mr. Dorset sich interessiere? Ach nein?!
Wie ein Schießpulverfabrikant auf solche Ideen komme, wisse er auch nicht genau, John rede nicht viel darüber. Es müsse mit seiner Vergangenheit zu tun haben, sozialistischen Lebensexperimenten in seiner, Johns Jugend, unten im Süden. Galveston, soweit er wisse. Und irgendetwas noch Früheres, wohl in New Orleans. Sicher ein halbes Jahrhundert her, schließlich sei der alte Knabe inzwischen schon über siebzig.