»Sie sind verhaftet!«, sagte der Konstabler.
Als die Schießerei begann, hatte James Fagan sich in den gleichen Graben geworfen, in dem Gowers wenige Minuten zuvor mit den Kindern verschwunden war. Um ein Haar hätte ihn seine eigene Schwester erschossen, als er weiterkroch und dabei kurz hochschaute. Das vertrieb gründlich seine Lust, hinter ihr herzulaufen. Er robbte stattdessen weiter voran, zur Seite, bemerkte dabei, dass die Polizisten oder wer immer die Fackeln trug, an ihm vorüberliefen und er jetzt außerhalb des Kreises war, den sie gezogen hatten.
Dann sah er plötzlich den Mann und die Kinder, wenige Dutzend Meter vor sich. Hätte er eine andere Waffe bei sich gehabt als sein Messer, wäre er aufgesprungen und hätte ihn angegriffen, so sehr pulste das Adrenalin der Verfolgung noch in seinen Adern. Stattdessen blieb er liegen und sah, wie die Flüchtenden geduckt eine große Ruine erreichten und in ihrem tiefen Schatten verschwanden.
Zu seiner nachhaltigen Überraschung tauchte der Mann wenige Minuten später wieder auf, und hocherfreut sah er ihn den in der Ferne verschwindenden Lichtern nachlaufen. Er wartete noch eine Weile, aber als er sich ganz sicher fühlte, erhob sich James Fagan, klopfte den Staub aus seinen Kleidern und ging zu der Ruine hinüber. Im Innern war es zu dunkel, um irgendeine Spur zu erkennen. Er schloss die Augen und lauschte; mit allen Fasern seines Körpers und Geistes konzentrierte er sich darauf, die Anwesenheit der Kinder zu erspüren. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Aber es blieb zu dunkel. Er würde auf die Dämmerung warten müssen.
43.
Obwohl sie geborene Seefahrer und auf vielen Wal-und Robbenfängerschiffen des 19. Jahrhunderts begehrte Matrosen waren, hatten die Maori nach achthundert Jahren des Lebens auf festem Land die Künste der Tangata Whenua, ihrer Seefahrerahnen, verlernt, wenn auch nicht vergessen: Durch das Verständnis der Sterne, der Wolken, des Meeres und seiner Strömungen Länder, Inseln und die Wege zwischen ihnen zu finden bei Tag und bei Nacht war ihnen fremd geworden. Lediglich die Küstenschifffahrt war ihnen halbwegs vertraut, aber dennoch war schon die Fischerei in ihren Augen keine Beschäftigung für Krieger, denn Fischer sind geduldige, friedliche Menschen. Menschen, die hinnehmen, anstatt wegzunehmen, weil Aggression im Kampf mit dem Meer keinerlei Vorteile mit sich bringt.
Die Moriori von Chatham waren Fischer gewesen.
Der alte Mann lebte unweit von Owenga, am Manukau Point, den die Weißen Kap Fournier nannten. Das Kap bildete die Südostspitze von Chathams Hauptinsel Wharekauri und war von Waitangi und den Hütten der Verbannten gute fünfundzwanzig Meilen entfernt. Eine Reise von zwei, drei Tagen. Eine Volkszählung fünf Jahre zuvor hatte ergeben, dass von den einst über zweitausend Moriori nur noch knapp hundert am Leben waren, darunter nicht mehr als eine Handvoll Männer in seinem Alter. Denn er war schon nicht mehr jung gewesen, als die Maori kamen, um sein Volk zu versklaven, und die meisten Männer seiner Generation waren umgekommen bei den verzweifelten Versuchen, das zu verhindern.
Er hatte seit dieser Zeit mit keiner Frau mehr geschlafen, mit keiner mehr schlafen dürfen, denn seine Ehefrau hatte ein Maorikrieger ihm weggenommen, und seine Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, hatte er sterben sehen. Niemand war mehr da, an den er sein Wissen weitergeben konnte, wie sein Vater es an ihn weitergegeben hatte – und dessen Vater an ihn und dessen Vater an ihn und dessen Vater an ihn. Die heilige Kette war zerbrochen, und sein Wissen würde mit ihm sterben.
An guten Tagen erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihn mit hinausgenommen hatte, bis die Inseln in einer Welt aus Wasser versunken waren. Die erste Nacht ohne Land. Die Bahnen der Sterne, die Länder und Inseln, über denen sie auf-oder untergingen; der Lauf der Sonne im Wechsel der Jahreszeiten, die Wolken, die immer dorthin zogen, wo Land lag, weil das Land wärmer war als das Meer. Das Lapa, geheimnisvolles unterseeisches Leuchten, das von den Landmassen ausging und in dunklen Nächten bis in eine Entfernung von hundert Meilen mehr zu erahnen als wirklich zu sehen war. Schließlich die Strömungen. Einige konnte man spüren, wenn man die Hand ins Wasser tauchte. Aber die großen Strömungen wohnten weit unten im Meer.
Mit Stricken aus Bast, die bis zu fünfzig Meter lang waren, hatten sie sich an das kleine Kanu gebunden und sprangen nackt, mit schweren Steinen in ihren Armen, ins Wasser. Die Steine zogen sie rasch hinab. Ein guter Lotse war immer auch ein guter Taucher und konnte unglaublich lange unter Wasser bleiben.
»Spreiz die Beine und achte auf deine Hoden«, hatte sein Vater gesagt, und er spreizte die Beine und achtete auf seine Hoden, an denen die Strömung zog in der grundlosen Tiefe.
»Die stärksten saugen an dir wie der Mund eines Weibes«, sagte der Vater und lachte, als sie wieder auftauchten, aber noch hatte keine Frau ihn berührt, und er verstand diese Worte erst sehr viel später. Dafür wusste er nun, wie die Strömungen hießen und wohin sie führten, wusste, dass die »Löcher« in einer Strömung durch weit entfernte Inseln hinter dem Horizont verursacht wurden, und würde diese Inseln auch in sternloser Nacht finden. Die Kombination all dieser Kenntnisse machte den Navigator aus.
Nach einer Lehrzeit von fast zehn Jahren hätte er mit dem geeigneten Boot und genügend Proviant ausgestattet jeden Punkt im Pazifischen Ozean erreicht – und erhielt die Tätowierungen, die das anzeigten: Punkte und Linien, Kreise, die von seinen Augenwinkeln zu den Schläfen und Ohren führten, über die Kieferknochen bis auf sein Kinn liefen, wo sie einander umschlangen wie die Arme von Liebenden. Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich, sagten die uralten Zeichen, die sich seit den Tagen der Tangata Whenua nicht verändert hatten und im gesamten pazifischen Raum verstanden wurden.
44.
Deborahs Mutter hatte glaubhaft angegeben, dass sie verschleppt und vergewaltigt worden war, deshalb wurde sie im September 1831 in Virginia nicht gehängt, sondern nur in den tiefen Süden verkauft. Für den Rest ihres kurzen Lebens zehrte sie von diesem einen Monat Freiheit, den sie an der Seite der Aufständischen erlebt hatte; von Hunden gehetzt, tötend, brandschatzend, die Virginia-Miliz auf den Fersen, durch die Wälder gejagt wie wilde Tiere – aber frei.
Für einen Sklaven wird es nie Tag, hieß es, aber für sie hatten sich die Nebel ein wenig gehoben, war die Sonne zwei Dutzend Mal aufgegangen. Tautropfen, glänzend und schwer wie reife Elderberries, hatten in den Hecken gehangen, unter denen sie schliefen, waren in ihr Gesicht gefallen und hatten sie aufgeweckt mit der unglaublichen, der wunderbaren Frage: Was tue ich heute?
Niemand hatte sie verschleppt, niemand hatte sie vergewaltigt, aber niemand konnte ihr das beweisen. Sie war aus eigenem Entschluss fortgelaufen und hatte sich Bloody Nat Turner und seinen zeitweilig siebzig Leuten angeschlossen, die bewaffnet das Land durchzogen und Brandsätze in die Häuser ihrer weißen Herren warfen. Sie hatte nicht selbst getötet, aber zwei Dutzend Weiße sterben sehen, darunter auch Frauen und Kinder.
Sie hatte kein Mitleid gehabt.
Sie war voller Liebe für die schwarzen Männer, die all das taten, schlief mit mehreren von ihnen, nicht wahllos, aber auch nicht sehr wählerisch. Und unter einer dieser Hecken, in einer dieser blutwarmen Nächte wurde ihr siebtes Kind gezeugt: in Freiheit – und etwas von der Schönheit und den Schrecken der Freiheit lebte in dem kleinen Mädchen weiter.
Ohne dass sie es je erfuhr, verdankte Deborah selbst ihren Namen Nat Turners Aufstand im fernen Virginia beziehungsweise den Worten der Bibeclass="underline" »Geh hin und ziehe auf den Berg Tabor und nimm zehntausend Mann mit dir«, die ein schwarzer Prediger unter ihnen auf die Aufständischen angewandt und die Deborahs Mutter so sehr beeindruckt hatten. Deborah war eine Richterin und Prophetin, lange vor Salomon, David, Saul, allen Königen Israels, Judas, ein halbes Jahrtausend vor dem Bau des Tempels. Zusammen mit Barak, dem Sohn Abinoams, und mithilfe von Jahel, der Frau des Heber, schlug sie die Kanaaniter und ihren Feldhauptmann Sisera aufs Haupt, »und das Land hatte Ruhe vierzig Jahre«.