Deborah wusste das nicht und glaubte, ihr Name sei von ihrem weißen Herrn ausgesucht worden, und hasste beides, als sie alt genug zum Hassen war. Sie wurde auf einer kleinen Plantage in Covington /Louisiana geboren, nachdem ihre Mutter sie in ihrem Leib, zu Fuß und in Ketten quer durch die Vereinigten Staaten getragen hatte. Als Deborah acht Jahre alt war, starb ihre Mutter, die sich nie an das sumpfige Klima der Coastal Plains gewöhnt hatte, an einem Fieber; starb unruhig, starb schwer, vom glänzenden, kühlen Tau der Freiheit träumend. Fast alles, was das Mädchen über seine Herkunft wusste, wurde in diesen Fiebertagen gesprochen.
Als sie zwölf war, machte ihr Herr, der bis dahin ein guter Herr und mit dem halben Dutzend anderer Sklaven ihre einzige Familie gewesen war, sie so brutal zur Frau, dass sie zum ersten Mal weglief, als sie erst wieder laufen konnte. Sie kam nicht weit auf dieser ersten Flucht, wurde rasch wieder eingefangen und von den Drivern, weißen und schwarzen Menschenjägern, erneut vergewaltigt. Aber sie zerbrach nicht daran; wurde stattdessen aufsässig, bösartig und fast totgeschlagen, als ihr Herr einmal sah, wie sie in sein Essen spuckte. Er vermietete sie auf ein Jahr an einen sogenannten Niggerbreaker in Hammond, und das war eine seltsame Erfahrung.
Seltsam, weil der Mann sein Handwerk verstand. Er schlug seine Sklaven nicht und gab ihnen besser zu essen, als Deborah es gewohnt war, aber nur, wenn sie ihre Arbeit taten, sechzehn Stunden am Tag. Wer bummelte, zu viel schlief, Widerworte gab, wurde in einem formvollendeten Gerichtsverfahren, in dem die anderen Sklaven sogar als Beisitzer fungierten, zu einer von zwei möglichen Strafen verurteilt: den Hörnern oder dem Stock. Die Hörner bestanden aus einem eisernen Ring, der um den Hals gelegt wurde und an dem drei oder vier spitze, gut dreißig Zentimeter lange Zinken festgeschmiedet waren, die den Kopf, das Gesicht wie die Stangen eines Käfigs umgaben. Mit den Hörnern konnte man nicht schlafen, nur auf der Seite, manchmal, für wenige Minuten, und nach einer Woche bettelte auch der wildeste schwarze Teufel darum, wieder arbeiten zu dürfen.
Im Stock ging es noch schneller. Dort wurden die Sklaven wie an einem mittelalterlichen Pranger eingeschlossen, auf den Knien, mit Kopf und Händen, erhielten ein starkes Abführmittel und knieten dann in den eigenen Exkrementen, bis sie sich eines Besseren besannen. Zur Strafverschärfung war der Stock so konstruiert, dass man dort problemlos zwei Menschen übereinander einschließen konnte; eine Erfahrung, die man nicht einmal selbst machen, sondern nur mit angesehen haben musste, um sie um jeden Preis zu vermeiden.
All das führte dazu, dass Deborahs zweite Flucht besser vorbereitet war. Sie dauerte fast zwei Wochen und führte sie bis nach Vidalia, wo sie zum ersten Mal den Mississippi sah und überquerte. Der ehrwürdige, weißhaarige Sheriff, der sie nur aufgrund des Zeitungsinserats »Entlaufen!« angehalten hatte, unterzog sie auf der Straße, vor dem Gefängnis, der Prozedur des bucking, die eigentlich Männern vorbehalten war. Man zog sie aus, fesselte ihre Hände um die angezogenen Beine und steckte dann eine hölzerne Stange zwischen Ellenbogen und Kniekehlen hindurch. Ein heftiger Tritt in die Seite ließ sie hilflos auf dem Boden umherrollen, und natürlich setzte ihr Peiniger seinen ganzen Ehrgeiz darein, sie mit seiner Peitsche auf besonders gemeine Weise zu verletzen. Das rettete insofern ihr Leben – oder zumindest ihre Ohren, die man rückfälligen Flüchtlingen abzuschneiden pflegte –, als eine Dame der besseren Gesellschaft von Vidalia das unwürdige Schauspiel durch ihr mutiges Einschreiten beendete und sie zwei Tage später – kaufte.
Die nächsten sechs Jahre waren die besten in Deborahs Leben, denn obwohl sie Sklavin blieb, Putzfrau, Zimmermädchen und gelegentlich auch Köchin, behandelte ihre neue Herrin sie doch immer wieder als eine Art Gesellschafterin. Sie las ihr die Geschichten aus der Bibel so häufig vor, dass Deborah sie auswendig konnte. Und weil sie sie auswendig konnte und einmal in aller Unschuld gefragt hatte, welches unter all diesen Zeichen ihr Name sei, lernte Deborah, trotz der Todeswürdigkeit dieses Verbrechens, heimlich ein wenig lesen. Eine kleine, in Stahl gestochene Karte des Mississippitals von New Orleans bis Memphis, an einer Wand des Empfangszimmers, klärte sie ebenso heimlich über ihren Ort in der Welt auf. Wenn dies der Fluss Mississippi war und dies Vidalia, dann gab das seltsam verschnörkelte Kreuz am oberen Ende der Karte offensichtlich die Himmelsrichtungen an: W für Westen, S für Süden, E für Osten und N …
Deborah blieb von da an nur noch bei der alten Dame, weil sie ihr das Leben gerettet hatte – und um ihre dritte Flucht noch gründlicher vorzubereiten. Ehe es jedoch so weit kam, starb ihre Herrin völlig überraschend, und die jetzt Neunzehnjährige fand sich als Teil der Erbmasse wieder. Sie lauschte an den Türen, hinter denen sich eine erstaunlich zahlreiche Verwandtschaft tagelang um die Hinterlassenschaft, Porzellan, Möbel, Bilder, Bücher und das sonstige chattel, also das bewegliche Hab und Gut der Verstorbenen, stritt, zu dem auch Deborah gehörte. Eine Schwester aus St. Louis hätte sie gerne genommen, gab aber dann doch dem französischen Silberbesteck den Vorzug, und so gelangte Deborah in den Besitz eines Neffen, der bei Vicksburg eine größere Plantage betrieb.
Das war gut, weil sie dadurch etwas weiter in den Norden gelangte, das war schlecht, weil sie wieder auf dem Feld arbeiten musste, denn die Ehefrau des glücklichen Erben fand sie zu hübsch, um sie im Haus und in der unmittelbaren Nähe ihres Gatten arbeiten zu lassen. Nach einem halben Jahr hielt die feine Dame es außerdem für an der Zeit, dass Deborah weitere kleine Sklaven in die Welt setze. Sie war inzwischen schlau genug, um sich dumm zu stellen, floh aber in der ersten Nacht vor dem ihr zugewiesenen schwarzen Ehemann – und zwar diesmal nach Süden, in der nicht unberechtigten Hoffnung, dass man eine entlaufene Sklavin in dieser Richtung nicht oder doch deutlich weniger intensiv suchen würde.
Sie kam tatsächlich unbehelligt und unkontrolliert bis Baton Rouge, schmuggelte sich dort auf ein nach Norden gehendes Dampfschiff und erreichte bei Mound City das freie Illinois. In langen nächtlichen Wanderungen, hungernd, barfuß und mit zerfetzten Kleidern kam sie schließlich nach Evansville/Indiana. Hier nahm sie durch die Vermittlung eines abolitionistischen Pfarrers einen Kredit auf, kaufte sich selbst für vierhundertfünfundsiebzig Dollar, die sie ihrem ehemaligen Herrn nach Vicksburg schickte, und einundzwanzig Jahre nach dem blutigen Aufstand Nat Turners wurde es zum ersten Mal in ihrem Leben Tag.
45.
Man hatte Moses vor allem deshalb noch nicht gefasst, weil er ein Meister der Tarnung war. Er war alt, er war jung, trug einen Bart oder keinen, Männer-und Frauenkleidung, arm oder reich – es waren die unterschiedlichsten Beschreibungen von Moses im Umlauf. Die Pflanzer und ihre Milizen, die Polizei, wussten nicht einmal, ob er im Süden oder Norden lebte, und fragten sich vor allem, wie er Kontakt zu den zur Flucht bereiten Sklaven aufnahm, ja, wie er sie und sie ihn überhaupt erkannten.
Tatsächlich hielten sie den Gospel »Go down, Moses«, der in den letzten Jahren wie eine Infektionskrankheit über die Schwarzen der Südstaaten gekommen war, nur für eine amüsante, biblisch motivierte Provokation, aber nicht für einen Code. Auch dass Sklaven einander nur in die Augen sehen müssen, um ihre Fluchtgedanken zu lesen, war den Sklavenhaltern naturgemäß unbekannt.