Wie viele Sklaven Moses bereits nach Norden und ins Gelobte Land Kanada geführt hatte, wusste nur er. Lediglich, dass er sein Werk in Kentucky begonnen hatte, vermutete man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
Bei Cloverport am Ohio war der Tabakpflanzer Dean Stanton an einem Morgen vor vier Jahren aufgewacht, weil es auf seiner kleinen Plantage so grabesstill war. Er fühlte sich, als hätte er am vergangenen Abend schwer getrunken, dabei hatte er nur zwei oder drei Gläser zu sich genommen, weil er bei klarem Verstand mit dem neuen, auffallend hochgewachsenen Niggermädchen schlafen wollte. Das Letzte, was er wusste, war, dass er sich tatsächlich zu ihr ins Bett gelegt hatte; danach nichts mehr. Er suchte jetzt nach seinen Kleidern und fand sie nicht, nichts, keine Hose, keine Stiefel, nicht einmal Pantoffeln. Barfuß und im Nachthemd irrte er über den Hof, fand zuerst seine Hunde, ein halbes Dutzend scharfer, bissiger Schweißhunde, in ihrem Zwinger liegend. Schwarze Fliegen saßen in ihren Augen, und der Schaum vor ihren Mäulern bewies, dass man sie vergiftet hatte.
Stanton tobte, noch immer barfuß, noch immer im Nachthemd, riss alle Hütten, Verschläge, Schuppen und Scheunentore auf, aber seine elf Nigger, Männer, Frauen und Kinder, waren verschwunden. Ebenso sein Pferd und sämtliche Waffen. Es kostete ihn vier Stunden, einen Himmel voll Flüche und völlig zerschundene Füße, um die Farm seines Nachbarn Charles Wilkinson zu erreichen. Als der endlich die Miliz alarmiert hatte, waren die geflohenen Sklaven natürlich längst über den Ohio und alle Berge, und auch ein offizielles Auslieferungsersuchen an die Behörden des freien Staates Indiana fruchtete nichts, da sie nach zwei Wochen Kanada erreicht hatten. Dean Stanton war ruiniert.
Ähnliche Vorfälle wiederholten sich bei Maysville und Peducah, bis die Sklavenhalter entlang des Ohio in ständiger Alarmbereitschaft waren und verstärkt weiße Aufseher anstellen mussten, die ihre Nigger auch nachts nicht aus den Augen ließen. Eine Weile kehrte daraufhin Ruhe ein, aber dann verschwand eine Gruppe Sklaven aus Shelbyville am Duck River, mitten in Tennessee, so spurlos, als wären sie unsichtbar geworden. Moses’ Raubzüge hatten das südliche Kernland erreicht, und obwohl seine unheimlichen Attacken vorwiegend im Grenzland zwischen freien und Sklaven haltenden Staaten stattfanden, von New Martinsville im nördlichsten Zipfel Virginias bis St. Genevieve/Missouri, konnten sich insbesondere die kleinen Farmer mit fünf oder fünfzehn Sklaven nirgends mehr sicher fühlen.
Nur in das Territorium der wirklichen Großgrundbesitzer, in den tiefen Süden, der bei Memphis begann, hatte Moses sich noch nicht vorgewagt. Das hing vermutlich mit Transportschwierigkeiten zusammen. Man nahm als sicher an, dass Moses seine Kinder auf dem Wasserweg in den Norden brachte, denn all seine Überfälle fanden in der unmittelbaren Nähe schiffbarer Flüsse statt. Wie das im Einzelnen vor sich ging, wusste im Süden niemand, aber eine weitere Gemeinsamkeit deutete auf einen einzelnen, hinter alldem stehenden Willen hin: Auffallend viele der entlaufenen Sklaven schickten ihren Herren von Kanada aus kleine oder größere Geldbeträge, um ihre Freiheit gewissermaßen offiziell zu erwerben.
Da niemand einem Schwarzen so viel Intelligenz, Geschick und Kühnheit zutraute, hielt man Moses zeitweise sogar für einen weißen Mann, einen Abolitionistenführer, der über ein Heer von Helfern, Zuträgern, Spionen verfügte, und die Wut der bestohlenen Plantagenbesitzer und Farmer wurde so groß, dass es gelegentlich zu Lynchmorden an Weißen kam, die im Verdacht standen, solche Hilfsdienste zu leisten. Tatsächlich überstieg die Zahl der vom Mob getöteten Weißen diejenige der gelynchten Schwarzen zeitweise um mehr als die Hälfte.
Man dachte auch an einen freigelassenen Sklaven, von denen es im Süden rund eine Viertelmillion gab, denn Moses, so viel war sicher, konnte offenbar ohne große Schwierigkeiten enorme Strecken zurücklegen, und das war einem Schwarzen, der nicht über die entsprechenden Papiere verfügte, so gut wie unmöglich. Aber als Chat Logan, ein fleißiger freigelassener schwarzer Pflanzer aus Blytheville/Arkansas, bei den Polizeibehörden seines Staates den Verlust von sechzehn seiner Sklaven beklagte, war auch diese Möglichkeit wieder infrage gestellt.
Moses machte offenbar keinen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Sklavenhaltern, und das steigerte die Verwirrung, die seine Tätigkeit auslöste, zeitweise bis zur Hysterie – auch bei den Sklaven selbst. »Go down, Moses«, erklang von Sonnenauf-bis Sonnenuntergang immer inbrünstiger auf den Baumwoll-und Tabakfeldern des Südens, und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er auch in Louisiana, Mississippi oder Alabama zuschlagen würde.
46.
Die Einladung der Whakarau erfolgte heimlich. Ein Bote kam zu dem alten Mann und bestellte ihn nach Waitangi; er sollte in einer bestimmten Nacht dort sein und weder vorher noch nachher noch unterwegs mit den Pakeha sprechen. Der Bote war kein Gefangener, war ein Maori von Chatham, zu jung, um einer der Eroberer zu sein oder auch nur Erinnerungen an die Eroberung zu haben. Die Whakarau bedienten sich solcher Leute, bestachen sie mit Geld oder der Gunst ihrer Frauen, um sich auf der Insel untereinander zu verständigen.
Der alte Mann, seit mehr als dreißig Jahren gewohnt, den Maori zu gehorchen, ging. Ging auf der einzigen Straße der Insel, die, obwohl hier und da von den Pakeha aufgeschüttet und mit Wagen befahren, doch nicht viel mehr war als ein breit ausgetretener Pfad. Er schlief schlecht in den Hügeln und war sehr unruhig, wie immer, wenn er das Meer einen Tag lang weder sah noch hörte. Er trug ein Netz bei sich, um, falls jemand ihn fragen würde, was er in Waitangi wolle, sagen zu können: ein Netz verkaufen. Aber niemand fragte ihn irgendetwas, obwohl er gelegentlich Leuten begegnete, die ihn wohl nur für einen verrückten alten Mann hielten, der ein Netz ins Landesinnere schleppte.
Mit der Abenddämmerung des dritten Tages kam er nach Waitangi, und der Bote, der ihn bereits erwartet hatte, brachte ihn in eine der Hütten der Whakarau in der Otea-Niederung. Eine Frau bot ihm zu essen an, was er ablehnte, und hieß ihn, sich niederzulegen, was er annahm, denn er war schon lange nicht mehr eine so weite Strecke gelaufen. Mitten in der Nacht wurde er geweckt, und als er aus der Hütte kam, sah er zu seinem Erstaunen, dass alle Gefangenen wach waren, selbst die Kinder, und mit freudigen, gespannten Gesichtern einem großen Feuer zustrebten, das man in einer Talmulde entfacht hatte. Dort erwartete sie der Prophet.
Te Kooti sah ganz und gar nicht aus wie ein Erzengel; er ging herum, lächelte, scherzte mit den Erwachsenen und brachte die Kinder zum Lachen. Erst nach einer Weile drehte er sich mit dem Gesicht zum Feuer und schwieg lange. Sein Schweigen fiel auf die Menge und verbreitete sich in ihr. Die Menschen sanken zu Boden, einige setzten sich, andere knieten, nur die dunkle Gestalt Te Kootis schien zu wachsen vor dem lodernden Feuer, und als er sich umdrehte, sahen sie, dass der Geist über ihm war.
Mit tiefer Stimme begann er zu singen: »Tiwha tiwha te po!« – Schwarz, schwarz ist die Nacht! Dann sprach er von den Offenbarungen, die er in seiner schweren Krankheit empfangen hatte, von dem Auftrag, den ihm Te wairua o te Atua, der Geist Gottes, gegeben habe: seinen Namen bekannt zu machen »ki tona iwi e noho whakarau nei i tenei whenua«, unter seinem Volk, in der Gefangenschaft dieser Insel. Er sprach von den ersten Dingen der Vergangenheit und dem Whakapapa als der Verbindung zwischen Menschen und Gott. Er sprach vom Frieden, von dem man sich abgewandt habe und den man wieder leben müsse, statt ihn nur zu fordern, und warnte sie vor allen Büchern, die von Sterblichen geschrieben waren.