»Nicht, Sir!«, sagte Gowers und versuchte, den schweren, kräftigen Mann aufzuhalten. »Nicht, bitte!«
Der Reeder stieß ihn beiseite und raste, in einem fort schreiend, die Treppe hinab.
Gowers konnte ihn zwar einholen, musste aber drei Mal zuschlagen, ehe Maguire das Bewusstsein verlor.
48.
Noch in der gleichen Nacht machte sich der alte Mann an den Rückweg und zwang sich dazu, nicht zu laufen, denn er wusste, dass er beobachtet wurde. Er ging, ohne anzuhalten, den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch. Obwohl er todmüde war, fürchtete er, dass die Späher des Propheten ihm die Kehle durchschneiden würden, sobald er sich schlafen legte. So erreichte er Owenga schon am frühen Morgen des nächsten Tages bei Sonnenaufgang. Und die Sonne bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen, färbte die See vom Horizont bis zum Strand hinauf blutrot – ein schreckliches Zeichen, das er erst einmal gesehen hatte; damals, bevor die Maori kamen und sein Volk, seine Familie, sein Leben auslöschten. Da wusste der alte Mann, was er zu tun hatte.
Mehrere Tage lang hielt er sich ruhig und tat nichts, was er nicht immer getan hätte. Aber in der Nacht flickte und nähte er an dem großen Segel, das er nicht mehr gesetzt hatte, seit seine Kinder tot waren. An einem späten Abend nach fast einer Woche in Angst und angestrengter Überlegung schob er sein Boot ins Wasser und paddelte hinaus. Als er die Brandung so weit hinter sich hatte, dass er sie nur noch sehr leise hörte, setzte er sein Segel und steuerte einen Stern an, von dem er wusste, dass kein Land unter ihm lag. Von alters her war es das Vorrecht der Navigatoren gewesen, auf diese Weise den Tod zu suchen.
Teil zwei
49.
Die Deep South war ein Heckraddampfer, also weniger schnell, manövrierfähig und deutlich weniger elegant als ihre großen Schwestern, die Shotwell oder die Eclipse mit ihren beiden riesigen Seitenrädern. Mit knapp fünfundzwanzig Meter Länge bei sechs Meter Breite und nur zwei Decks sah sie neben den schwimmenden Palästen, den stolzen weißen Sidewheeler-Schwänen des Mississippi aus wie eine plumpe kleine Ente. Alles an ihr wirkte altertümlich und ein wenig verkommen, bis auf die Maschine, die kohlegeheizten Kessel, die so glänzend neu waren, als habe man das alte Schiff um sie herumgebaut.
Ihr größter Vorteil war, dass auch eine kleine Besatzung sie sicher handhaben konnte. Ein Lotse als Steuermann, ein Maschinist und ein Lotgast würden zur Not genügen, um sie – bei Tag – an jeden beliebigen Punkt des Flusses zu bringen. Nachts stellte sich die Sache schwieriger dar, weil dann gelegentlich zwei, manchmal vier Lotungen gleichzeitig vorgenommen werden mussten, um an gefährlichen Stellen in einer geeigneten Fahrrinne zu bleiben. Aber dort würde John sich einfach auf sein Gedächtnis verlassen und hoffen, dass der Mississippi ihm keinen Streich spielte.
»Wem gehört sie?«
»Mir«, antwortete John Lafflin so selbstverständlich, als habe er in seinem Leben schon mehr als ein Schiff besessen. In seiner einfachen Flussschifferkluft sah der Pulverfabrikant auf eine merkwürdige Weise auch überhaupt nicht verkleidet aus.
Zwei Männer waren mit ihm an Bord gekommen, beide Arbeiter in seiner Fabrik: ein schlanker junger Mulatte mit raschen, wachen Augen und dem Namen Jason und ein wahrer Herkules von Mann, der Gowers als »Mr. Phineas« vorgestellt wurde. Mr. Phineas war gut zwei Meter groß, hatte riesige Hände, mit denen er die Kessel zur Not auch ohne Schaufel hätte heizen können, und einen Bart, den er beim Arbeiten mit kleinen Schlingen aus Bindfaden bändigte und so gezähmt kurzerhand vorn in den Hosenbund steckte.
Da irgendeine Geheimhaltung noch nicht nötig war und nur zu dummen Gerüchten geführt hätte, verließ die Deep South St. Louis am späten Nachmittag unter Dampfgeheul. John brachte sie in die Mitte des Flusses und ließ dann die Ventile so weit drosseln, dass er bei Bedarf gerade noch manövrieren konnte, überließ aber die eigentliche Arbeit der starken, stetigen Strömung. Gegen Mitternacht legten sie zum ersten Mal an; bei Chester, auf der Illinois-Seite, und ein weiterer Mann kam an Bord. Er war nur wenig jünger als John Lafflin, sah aber mit seinen langen weißen Haaren, seinem ungepflegten Bart und einem wüsten, von Narben entstellten Gesicht aus wie ein Evangelist, der lange in schlechter Gesellschaft gelebt hat.
Er begrüßte Lafflin, indem er mit der rechten Hand an eine Wollmütze tippte, die vor drei oder vier Jahrzehnten feuerrot gewesen sein mochte, und sagte: »Mon Capitaine!«
Lafflin erwiderte den seemännischen Gruß – »Gringoire!« –, schloss den Neuankömmling aber dann in die Arme und klopfte ihm dabei so krachend auf die Schulter, dass man es auf dem ganzen Schiff hörte. Beides bestätigte Gowers in der längst gehegten Vermutung, dass John Lafflin nicht immer nur Schießpulver fabriziert, sondern in seiner Jugend auch nicht unbeträchtliche Mengen davon verbraucht haben musste. Trotz seiner nur wenig über zwanzig Jahre hatte der Lotse in seiner Zeit auf britischen Schiffen oft genug gesehen, wie sich Männer begrüßten, die zusammen im Feuer gelegen hatten.
Als sie in der Morgendämmerung weiterfuhren, sah er, dass Gringoires Familie auf dem Hügel über der schäbigen kleinen Anlegestelle gewartet hatte, um ihn zu verabschieden: eine große, weißhaarige Negerin und ihre beiden hellhäutigeren Töchter, eine davon mit einem Säugling auf dem Arm, die andere mit einem Kind an der Hand. Gowers fragte sich, warum sie nicht wenigstens kurz mit an Bord gekommen waren, aber das blieb nicht das einzige Geheimnisvolle an dem im Übrigen sehr einsilbigen neuen Besatzungsmitglied.
Der große Fluss war in den ersten grauen Morgenstunden so leer wie das Herz eines Bankiers oder das Hirn eines Soldaten; also nur hier und da ein paar kleine Flöße, so weit entfernt, dass man ihnen nicht einmal ausweichen musste. Lafflin, der sich, obwohl nominell Kapitän, auch für die Dienste eines Stewards nicht zu schade war, brachte seinem Lotsen und Steuermann eine große Blechtasse und eine Kanne mit schwarzem Kaffee ins »Texas«, wie das Steuerhaus auf Mississippidampfern allgemein genannt wurde.
Gowers hatte eben beobachtet, wie sich Gringoire auf dem Vordeck zum Schlafen einrollte und nun schon seit einer Viertelstunde schnarchte wie ein betrunkener Erzengel. Während die Hitze des Kaffees in seinem Magen anschlug und sich mit wohliger Langsamkeit in seine Gliedmaßen verbreitete, fragte er: »Heißt der Mann wirklich Pierre Gringoire?«
Lafflin schüttelte den Kopf. »Nur Gringoire, soweit ich weiß. Vielleicht nur ein Spitzname, aber den hatte er dann schon weg, als wir uns kennenlernten.« Ehe Gowers weitere Fragen stellen konnte, ging der alte Mann in die Offensive. »Sagen Sie nicht, dass Sie auch einen französischen Renaissancedramatiker gelesen haben!«
»Nein«, erwiderte Gowers belustigt. »Aber Notre-Dame de Paris natürlich, wenn auch nur in einer englischen Übersetzung.«
»Parlez-vous français?«
»Nur das, was man in New Orleans so nennt, Sir.«
Gringoire war tatsächlich ein Spitzname, aber Gringoire trug ihn schon so lange, dass er sich an seinen eigentlichen Namen kaum noch erinnern konnte. Schon seine Kommilitonen an der Sorbonne hatten ihn so genannt, wegen der Narrenstreiche, die schließlich zu seiner Relegation geführt hatten, und in seiner Gerichtsakte stand »Gringoire« bereits gleichberechtigt neben seinem bürgerlichen oder vielmehr adligen Namen. Einem der wenigen, die es anderthalb Jahrzehnte nach der großen Revolution in Frankreich noch gegeben hatte.