Im Bagno, auf den Îles du Salut, wurde er endgültig und ausschließlich Gringoire und blieb es auf seiner abenteuerlichen Flucht durch Französisch-Guayana, Surinam, Kolumbien und die Inselwelt der Karibik. Auf Santo Domingo schloss er sich dem berüchtigten Freibeuter Pierre Laffitte an, der französische Waren an der gesamten englischen Kriegsflotte vorbei nach New Orleans schmuggelte. In New Orleans endlich lernte er Pierres jüngeren Bruder Jean kennen; einen Mann, der nicht nur Liebhaber der amerikanischen Gouverneursgattin war, sondern auch die Chuzpe besaß, ein von ebendiesem Gouverneur, William C. C. Clairborne, auf ihn ausgesetztes Kopfgeld von fünfhundert Dollar zu verzehnfachen – auszuzahlen an denjenigen, der ihm Gouverneur Clairborne brächte, tot oder lebendig.
In der sinnlosesten Schlacht des Jahrhunderts, die Anfang Januar 1815 bei New Orleans nur stattfand, weil weder Engländer noch Amerikaner wussten, dass die Vertreter ihrer beiden Länder bereits Weihnachten 1814 im fernen Belgien einen Friedensvertrag unterzeichnet hatten, kämpften sie aber dann doch aufseiten der Amerikaner: Gringoire, die Brüder Laffitte und zweihundert ihrer halbwilden Schmuggler und Piraten aus den Sümpfen von Barataria. Der Dank der Vereinigten Staaten für ihre schlachtentscheidenden Dienste bestand darin, dass ein Bataillon der US-Marine die kleine Schmugglerrepublik dem Erdboden gleichmachte, während zur gleichen Zeit die zerlumpten Baratarier die Übermacht der britischen Rotröcke unter General Sir Edward Palkenham vier Mal zurückschlugen.
Eine bereits ausgerufene Amnestie wurde kassiert, und die so schäbig betrogenen Piraten zerstreuten sich in alle Winde der Karibischen See. Gringoire und die Brüder Laffitte schlossen sich dem mexikanischen Freiheitskampf unter Admiral Manuel de Herero an, plünderten von Galveston aus allerhand Fracht-und die letzten Silberschiffe, die die spanische Krone aus Mittelamerika herauspresste. Sie gründeten auch erneut eine Piratengemeinde: Campeachy, letzte natürliche Tochter der alten Seeräubernester Tortuga, Port Royal und New Providence.
Amerikanische Kriegsschiffe machten schließlich 1821 diesem letzten Spuk der Freibeuter, Buccaneers und Piraten der Karibik, die unter der Flagge Groß-Kolumbiens ihrem seeräuberischen Handwerk nachgingen, ein unblutiges Ende. Die Brüder Laffitte segelten aus der Geschichte ins mythische Reich der Schatzinseln und Knabenträume, und Gringoire, ihr bester Kanonier, verschwand mit ihnen – um vier Jahrzehnte später an Bord eines kleinen Mississippidampfers wieder aufzutauchen.
50.
Gegen Mittag hatte Gringoire das Steuer übernommen und Gowers sich unter Deck verholt, wo John Lafflin, merkwürdig vertraut auch mit den Küchengerätschaften eines Schiffes, wenn auch nicht unbedingt mit Zutaten und Gewürzen, ihre erste Mahlzeit auf dem Fluss zubereitete.
»Was liegt an, Mr. Gowers?«
»Recht so, wie’s geht, Sir«, sagte John und fügte, nachdem er dem Treiben eine Weile zugesehen hatte, amüsiert, aber durchaus respektvoll hinzu: »Sie sind der erste Kapitän, den ich kochen sehe.«
»Meinen Sie, ich sollte ein bisschen an Deck gehen und wichtig aussehen?«, erwiderte Lafflin ironisch. Er wandte sich wieder den beiden Töpfen zu, die über der Feuerstelle hingen. »Nein«, fuhr er fort, »wenn an Deck alles glattgeht, alle Pläne gemacht sind und alle Mann ihre Arbeit tun, sollten Kapitäne viel öfter kochen.«
»Jason liegt achtern auf einer Taurolle und schläft.« Gowers war kein Denunziant, aber zu lange auf britischen Schiffen gefahren, um sich diese Bemerkung verkneifen zu können.
»Jason ist gerade mal zwanzig. Der braucht seinen Schlaf«, antwortete Lafflin gleichmütig. »Ich dagegen kann selbst nachts kaum schlafen, zum Kohleschaufeln bin ich zu alt, und zum Lesen fehlt mir gegenwärtig die Lust. Kochen ist wirklich das Sinnvollste, was ich im Moment tun kann. Außerdem esse ich gern, und so weiß ich wenigstens, was ich esse.« Er wusste es allerdings nicht ganz genau, denn er hatte zumindest ein paar Gewürze verarbeitet, die ihm bis dahin unbekannt gewesen waren.
»Und die Autorität?«, bohrte John weiter.
»Wenn ich die dauernd beweisen müsste, wäre ich arm dran.« Der Alte lächelte. »Da wir in Amerika schon die Wahl zwischen sinnloser Autoritätswahrung und sinnvoller Tätigkeit haben, wähle ich lieber die Tätigkeit.«
»Ah! Sozialismus, nicht wahr?«, stichelte der Lotse.
»Ja«, antwortete Lafflin trocken. »Die Beseitigung des Einkommens ohne Arbeit sozusagen.« Er scharrte mächtig in einem der beiden Töpfe, in dem sich trotz einer Unmenge Öls etwas anzusetzen drohte.
»Warum wollen Sie eigentlich gerade das abschaffen, wovon alle träumen?«, fragte der junge Mann ehrlich erstaunt.
»Weil es gute und schlechte Träume gibt, Mr. Gowers. Aber verstehen Sie mich recht: Der Traum von einem sorgenfreien Leben ohne Anstrengung ist nicht an sich schlecht. Schlecht ist er nur, wenn ihn wenige auf Kosten vieler verwirklichen, weil er dann für die vielen immer nur ein Traum bleiben wird.«
»Ist nicht genau das natürlich?«
»Das glaube ich eben nicht.« Lafflin ereiferte sich allmählich. »Ich halte es für eminent politisch. Für eine politische Konstruktion von den Reichen für die Reichen, begründet durch angeblich göttliche Prinzipien, organisiert von einer korrupten Beamtenschaft und durchgesetzt von Polizei und Militär – also fünftausend Armen, die man ein bisschen besser bezahlt, damit sie hunderttausend andere Arme in Schach halten. Natürlich, Mr. Gowers, ist dagegen die Revolution!«
»Aha«, sagte der Lotse und führte den Daumen quer unter seinem Kinn über den Hals.
»Ja«, bestätigte Lafflin, »wenn es nicht anders geht.« Wieder verlangten die Töpfe ihr Recht, und der Kapitän nahm einen von ihnen von der offenen Flamme. »Wissen Sie, was Marie-Antoinette geantwortet hat, als man ihr erklärte, dass die Armen revoltieren, weil sie kein Brot mehr haben?«
Gowers schüttelte den Kopf.
»Sie sagte: Dann sollen sie doch Kuchen essen!« Lafflin schnaufte verächtlich. »Einen solchen Kopf zu verlieren kann man wohl kaum als Verlust für die Menschheit bezeichnen.«
»Ich nehme an, dass Marie-Antoinette das anders gesehen hat.«
Der alte Mann zuckte jetzt die Achseln, als hielte er die Fortsetzung des Gesprächs allmählich für sinnlos. »Revolutionen sind immer grausam, in ihrem Verlauf ungerecht, in ihren Ergebnissen häufig verfehlt. Aber eben nie – unberechtigt! Ein Prozent der Bevölkerung hat nun einmal nicht das Recht, neunundneunzig Prozent auszubeuten, und darf sich nicht wundern, wenn das dazugehörige System gelegentlich mit einem hässlichen Geräusch im Mülleimer der Geschichte verschwindet.«
»Aber das Verhältnis stellt sich doch offenbar immer wieder her, sozusagen in neuen Gewändern. Wäre es da nicht logisch …«
Lafflin winkte nun beinahe verächtlich ab. »Ich fürchte Dinge, die logisch sind«, sagte er. »Logik suggeriert eine Wahrheit ohne Inhalt, also bloße Folgerichtigkeit, und die Ereignisse, auch die schlimmsten, drängen sich uns dadurch als unausweichlich auf. Wir glauben allen Ernstes, wir dürften an Abläufen nichts ändern, wenn sie nur logisch sind, und insofern lähmen sie uns. Jeder Krieg tritt auf und sagt dröhnend: Ich muss stattfinden! Und die Menschen sind ihm zu Willen, weil er ihnen mit seiner Logik kommt.« Er nahm jetzt auch den anderen Topf vom Feuer und rührte dann die bis zur Undefinierbarkeit verkochten Inhalte der beiden Gefäße ineinander, während er fortfuhr: »Die nobleren Seiten unseres Wesens sind fast alle unlogisch: Gnade und Liebe. Humor. Fantasie. Kunst. Kosten Sie mal!«