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»Also kann selbst ein Blinder mit Krückstock sehen«, schrieb der Spötter, »dass der Unterlauf des Mississippi im alten Oolith-Silur, nächsten November vor genau einer Million Jahre, wenigstens eine Million dreihunderttausend Meilen lang war. Ebenso muss es jedem einleuchten, dass es in siebenhundertzweiundvierzig Jahren von Cairo bis New Orleans bloß noch eindreiviertel Meilen sein werden und die beiden Städte spätestens dann ihre Straßen zusammenlegen.«

Der ehrenwerte Isaiah Sellers veröffentlichte nie wieder irgendetwas, und sein Widersacher stahl ihm daraufhin sogar das Pseudonym, unter dem der Kapitän fast ein halbes Jahrhundert geschrieben hatte: Mark Twain.

Sam Clemens hatte den Lotsenberuf ebenfalls unter Horace Bixby erlernt. Trotz seiner erst einundzwanzig Jahre hieß es, er könne aus dem Stegreif und ohne Not ein Loch in den Boden lügen, »so groß wie Texas«. Dass damit nicht der Staat, sondern nur das gleichnamige Steuerdeck gemeint war, tat der Exorbitanz seiner diesbezüglichen Fähigkeiten nur wenig Abbruch.

Er konnte den Engländer nicht leiden, und John wusste das. Umso überraschter war Gowers, als die Doc Brown, der sie am frühen Morgen des zweiten Tages bei Osceola begegneten, mit den üblichen zwei kurzen und zwei langen Pfeifsignalen kundtat, dass die Lotsen beider Schiffe miteinander zu reden hätten – und Sam Clemens auf dem in solchen Fällen angesteuerten nächsten Anlegesteg flussabwärts von Bord ging, als wollte er sich die Beine vertreten.

So etwas kam gelegentlich vor. Ein Lotse, der eine neu aufgetauchte Gefahr auf dem Fluss, ein Wrack, einen tückisch verkeilten Baumstamm oder ein durch einen nächtlichen Abbruch entstandenes Riff entdeckte, tat nur seine Pflicht, wenn er seine Kollegen bei erster Gelegenheit darauf hinwies. Dennoch war es ein seltsames Schauspieclass="underline" die beiden großen Schiffe, Fracht und Passagiere, Werte von leicht zehn-oder zwanzigtausend Dollar – und die beiden jungen Burschen, knapp über zwanzig, die den Lauf der amerikanischen Wirtschaft aufhielten, um auf einem gottverlassenen Steg unterhalb von Osceola/Arkansas anscheinend locker miteinander zu plaudern.

»Mr. Gowers.«

»Mr. Clemens.«

Obwohl sie kurzzeitig unter demselben Meister gelernt hatten, begrüßten sich die beiden jungen Männer sehr förmlich, indem sie mit knappen Verbeugungen die Lotsenmützen voreinander zogen.

»Schöne alte Nuckelpinne das«, sagte Clemens mit einem Lächeln in Richtung der Deep South. »Wohin geht’s?«

»New Orleans«, antwortete Gowers. »Und selbst?«

»Louisville.« Ohne sich vom Anblick des alten Schiffes losreißen zu können, fuhr Clemens fort: »Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber Ihr Kahn sieht nicht gerade so aus, als würde er die Aufmerksamkeit klügerer Reisender auf sich ziehen.«

»Ja, jetzt, wo Sie’s erwähnen … Aber die Sonne scheint für alle, nicht wahr?«, sagte John achselzuckend. »Haben Sie mich deshalb angeheult?«

»Ja und nein.« Clemens kratzte sich in einem eindrucksvollen Dickicht widerspenstiger brauner Locken. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass man mich trotzdem von Baton Rouge bis Memphis in nahezu jeder erwähnenswerten urbanen Ansiedlung nach einer gewissen Deep South gefragt hat. Und die Herren sahen nicht eben freundlich und zahlungswillig aus.«

Das Protokoll verlangte, dass sich nun Gowers hinter dem rechten Ohr kratzte und die Stirn runzelte. »Wie sahen sie denn aus?«

»Sozusagen schlagfertig, Mr. Gowers.« Sam Clemens grinste milde. »Sind Sie in letzter Zeit mal jemandem auf die Füße getreten?«

»Dauernd«, entgegnete John und seufzte. »Aber ich weiß auch nie genau, wem.« Er ließ sich noch ein wenig genauer beschreiben, was und wer im Süden auf sein Schiff wartete, wurde aber durch den Bericht seines scharf beobachtenden Kollegen nicht wesentlich klüger.

»Freut mich, wenn ich Ihnen zu denken geben konnte.« Clemens wandte sich wieder der Doc Brown und ihrem ungeduldigen Kapitän zu. »Na dann, sonst meinen die oben in Kentucky noch, wir wären abgesoffen, und fangen an, ergreifende Briefe an die Versicherung zu schreiben. Mast-und Schotbruch!«

Noch einmal grinste er mit dem Charme eines alten Krokodils, denn natürlich besaß ein Mississippidampfer weder Masten noch Segelleinen. John hatte jedoch während ihrer kurzen gemeinsamen Zeit beim alten Bixby einmal von einem Sturm im Südpazifik erzählt, und Sam, der die Ufer des Flusses noch nie aus den Augen verloren hatte, trug ihm das noch immer ein wenig nach.

»Danke verbindlichst«, sagte John und zog zum Abschied seine Mütze.

»Mr. Clemens!«

»Mr. Gowers!«

54.

Barataria war ein Kunstwort. Barato bezeichnete im Spanischen einen wohlfeilen Kauf, Baratterie war im französischen Sprachgebrauch der Karibik ein Synonym für Betrug und barare, italienisch, bedeutete so viel wie falschspielen, schummeln. Miguel de Cervantes hatte 1615 im zweiten Teil des Don Quijote einen Ort namens Barataria erfunden und zu der »Insul« gemacht, auf der Sancho Pansa endlich seinen Gouverneursposten erhielt. Die literarisch gebildeten Brüder Laffitte hatten es amüsant gefunden, ihrer kleinen Schmugglerrepublik in den Sümpfen vor New Orleans diesen ebenso vielschichtigen wie zwielichtigen Namen zu geben.

All das wusste Deborah nicht, als sie über vierzig Jahre später, im Sommer 1857, eine zu Tode erschöpfte Gruppe von sechsunddreißig entlaufenen Sklaven, Männern, Frauen und Kindern, an den Ort führte, der ihr als die letzte Zuflucht genannt worden war, wenn alles schiefginge. Nicht alles, aber doch das meiste war schiefgegangen, jedenfalls nach der annähernd zeitgleichen Flucht ihrer Schützlinge von nicht weniger als sieben verschiedenen Plantagen in Denham Parish bei Baton Rouge.

Es hatte viel Zeit und Koordination gekostet, diese Massenflucht vorzubereiten, und entsprechend viele Leute waren in den Plan eingeweiht. Einer, Nathan Willoughby, ein Haussklave und ausgesprochen vernünftiger Mann, war offenbar geschnappt worden, und Deborah wagte daraufhin nicht mehr, ihre Gruppe zum vereinbarten Treffpunkt mit dem Schiff zu führen. Stattdessen gingen sie – Deborah wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Erwachsener fünf Tage, ohne zu essen, marschieren kann – nach Südosten, in die Sümpfe des Lake Maurepas, und hatten damit den von der Miliz gezogenen Fahndungsring überschritten. Hier versteckten sie sich einige Tage, bis Deborah, in der Maske eines Cajunmischlings, ein Floß aufgetrieben hatte, das groß genug war, um sie alle über den Fluss zu bringen.

Das Übersetzen war eine selbstmörderische nächtliche Aktion gewesen, da keiner von ihnen besonders viel Erfahrung mit Flößen hatte, und zwei Kinder waren ertrunken: ein vorwitziger kleiner Junge, der ins Wasser gefallen, und seine dreizehnjährige Schwester, die ihm nachgesprungen war, um ihn zu retten. Die Klagen der untröstlichen Mutter hatten sie am anderen Ufer, nahe Lulling, beinahe verraten, und ein paar wilde junge Männer in ihrer Gruppe waren nahe daran gewesen, die Frau zu erschlagen. Überhaupt waren die jungen Männer diesmal ein Problem, und das Fehlen eines besonnenen Mannes wie Nathan Willoughby machte sich hier besonders bemerkbar: Sie gehorchten Deborah nur widerwillig, und besonders einer, Gandalod von der Bonneterre-Plantage, sprach immer wieder davon, nicht mehr zu flüchten, sondern zu kämpfen, in der nächstbesten Stadt Waffen zu stehlen und alle Weißen zu töten, die ihnen begegnen würden.