56.
In seinem Beruf hatte der Detektiv es häufig mit »schweren Jungs« zu tun, verschwiegenen, maulfaulen Gesellen, die lieber zuschlugen, als ein Wort zu viel zu sagen. Noch schlimmer waren die kriminellen Frauen, Damen des Gewerbes, die gemeinhin zwar schnell und viel redeten, aber selten die Wahrheit sagten. Als Plage betrachtete er auch jene Beamten in Justiz und Verwaltung, denen weder durch Bestechung noch gutes Zureden Informationen zu entlocken waren.
Gabriel Beale hatte viele Strategien, die ihn trotz solcher menschlichen Hindernisse normalerweise rasch ans Ziel führten. Er hatte sich schon als Pfarrer, General, Saufkumpan, Freier, Juwelier, Journalist, Anwalt, Polizist, potenzielles Opfer, Versicherungsvertreter, Büchsenmacher und, und, und ausgegeben, einmal sogar als Standesbeamter. Am Ende bekam er seine Informationen, Namen und Daten, vor allem, weil er die unheimliche Gabe besaß, binnen Minuten das Vertrauen seiner Gesprächspartner zu gewinnen.
Nur Mrs. Emma Lafflin und das Haus Nr. 24 in der Collins Avenue, St. Louis/Missouri, erwies sich mehr und mehr als uneinnehmbare Festung. Das traf ihn umso härter, als die Ermittlung bis dahin so einfach gewesen war. Er hatte natürlich den arglosen Maler ausgequetscht wie eine Zitrone und wusste nun, dass die Lafflins eine glückliche Ehe führten und zwei erwachsene Söhne hatten. Er wusste sogar, wo und was sie studierten. Aber andererseits wollte er in seinem Leben nie wieder etwas über den Sozialismus und die Internationale Arbeitervereinigung von St. Louis hören oder irgendetwas zu den künstlerischen Bemühungen dieses Pinselquälers sagen müssen.
Es kostete ihn einen Nachmittag herauszufinden, wo und wann die Lafflins getraut worden waren, und er musste diese lächerliche Information – 7. Juni 1832 – auch noch aus den unzähligen Familienanekdoten der presbyterianischen Gemeinde herausfiltern, mit denen der redselige Pfarrer das gemeinsame Durchblättern des Kirchenbuchs offenbar kurzweiliger zu gestalten glaubte. Mit kaum noch gespielter Rachsucht klapperte er danach einen Tag lang sämtliche Rechtsanwälte der Stadt ab, um als geprellter Salpeterzulieferer P. W. Dobbington seinen betrügerischen Geschäftspartner John Lafflin zu verklagen. Aber nicht einer, nicht der schäbigste unter den ortsansässigen Winkeladvokaten wollte den Fall übernehmen oder konnte auch nur irgendetwas Negatives über den Leumund des Schießpulverfabrikanten sagen – es war zum Verzweifeln.
Seine letzte selbstmörderische Attacke führte ihn direkt und persönlich vor die Tür und sogar in die Halle des belagerten Hauses. Sehr gekonnt, seriös und mit würdevoller Besorgnis spielte er dort die Rolle eines privaten Ermittlers namens Edward Doughty, der seit einigen Wochen die Schritte der Ehefrau seines ungenannten Auftraggebers beobachtet habe und dabei, wie solle er sagen, auch auf die Spur des Hausherrn, John Lafflin, gestoßen sei, der in ihrer Gesellschaft verkehre. Selbstverständlich wolle er alles tun, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, sehe es aber als seine unangenehme Pflicht an, sie, Mrs. Lafflin, zu fragen, ob sie ihres Gatten sicher und über seine gesellschaftlichen Aktivitäten jederzeit auf dem Laufenden sei. Im Interesse aller Beteiligten …
Sein Auftritt dauerte nur knapp zwei Minuten. Dann sagte Emma Lafflin amüsiert zu ihrem Hausdiener, einem großen, sehr distinguiert wirkenden Neger: »Lucius, der Herr will gehen und findet die Tür nicht.«
Und Gabriel Beale – »Da haben Sie aber Glück, Sir. Die kann ich Ihnen so deutlich zeigen, dass Sie’s im Leben nicht mehr vergessen!« – hörte noch auf der Treppe, wie die Dame des Hauses in ein herzliches Gelächter ausbrach.
Er würde also einbrechen müssen. Das hatte er schon lange nicht mehr getan und fluchte, als das Licht in Emma Lafflins Schlafzimmer am ersten Abend auch um halb zwei Uhr nachts noch nicht erloschen war. Ihm fehlte die Geduld für so etwas, und er lenkte sich mit der Frage ab, ob das wohl eine Alterserscheinung war, denn früher war er häufiger eingebrochen, und das Warten war ihm leichter gefallen. Nach der ersten so hingebrachten Nacht war er sicher, dass Mrs. Lafflin bei Licht schlief, und das würde ihm immerhin das Suchen erleichtern.
Dennoch wartete er in der zweiten Nacht wieder bis drei Uhr, ehe er möglichst geräuschlos einen Fensterladen im Erdgeschoss aushebelte und endlich in die so hart wie heimlich umkämpfte Festung eindringen konnte. Mit der ihm eigenen Systematik verschaffte er sich zunächst einen Überblick über sämtliche Räume, um keine Zeit mit dem Suchen an falscher Stelle zu verlieren. Das Arbeitszimmer im ersten Stock schien ihm zunächst am vielversprechendsten, aber er begann seine Recherche dann doch in der Familienbibel, die auf dem Nachttisch lag und – wie in jedem ehrbaren amerikanischen Haushalt des 19. Jahrhunderts – die Abendlektüre der friedlich und geräuschlos schlafenden Hausherrin gebildet hatte.
Schon auf der ersten der damals üblichen Seiten für die Familieneintragungen am Ende des Alten Testaments wurde er fündig. »Ich weiß jetzt alles über Jeans Vergangenheit«, hatte die damals vierundzwanzigjährige Emma Lafflin im Jahr 1832 in einer klaren, festen Frauenschrift zu Papier gebracht. »Er hat mir sein Leben erzählt, und ich bin jetzt umso mehr entschlossen, seine Frau zu werden.« Das klang vielversprechend, und Gabriel Beale schlich, statt ins Arbeitszimmer und zur Geschäftskorrespondenz des Schießpulverfabrikanten, lieber ins Nähstübchen der wagemutigen Ehefrau, wo er nach kurzem Suchen tatsächlich die Briefe fand, die John Lafflin seiner Frau vor zehn Jahren aus Europa geschrieben hatte.
Man sah ihnen ihre lange Reise an. Sie waren von belgischen, französischen, britischen und amerikanischen Postbehörden abgestempelt, aber leider auf Französisch geschrieben, das Beale nur unzureichend beherrschte. Lafflins Handschrift war zudem klein und unruhig, schwer zu entziffern; dennoch brauchte der Detektiv nur wenige Minuten, um eine aufschlussreiche Besonderheit und Gemeinsamkeit dieser Schreiben zu entdecken.
Obwohl an Mrs. Emma Lafflin adressiert und auf der Rückseite mit John Lafflins jeweiliger Hotelanschrift versehen, waren sie doch allesamt mit J’n Laffitte unterzeichnet. J’n war Jean, so viel war klar. Aber wer oder was war Laffitte? Er wusste, dass er diesen Namen schon irgendwo gehört oder gelesen hatte, aber in welchem Zusammenhang?
Das charakteristische Geräusch eines Abzugshahns, der gespannt wird, unterbrach seine Überlegungen, und er verfluchte sich dafür, dass er so rücksichtsvoll gewesen war, die Briefe im Licht seiner kleinen Petroleumlampe zu lesen, anstatt sie einfach zu stehlen.
»Hätten Sie wohl die Freundlichkeit, die Hände hochzunehmen, Mr. Doughty?«, sagte Emma Lafflin, die mit dem Revolver ihres Mannes auf den nächtlichen Eindringling zielte.
Gehorsam hob Gabriel Beale die Hände, erwiderte dabei aber in seinem ruhigsten und beruhigendsten Tonfalclass="underline" »Ich glaube nicht, dass Sie schießen werden, Madame!«
»Dann sind Sie ein gottesfürchtiger Mensch und werden mit Sicherheit in den Himmel kommen«, lautete die beunruhigend ruhige Antwort. Mrs. Lafflin läutete nach ihrem Hausdiener, und schon eine halbe Stunde später befand sich der Detektiv auf dem Weg ins öffentliche Gewahrsam der Gemeinde von St. Louis.