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Dort konnte er sich immerhin zum ersten Mal seit zwei Tagen ordentlich ausschlafen und glaubte schon, nach seinem kläglichen Scheitern als Einbrecher nun sein Talent als Ausbrecher beweisen zu müssen, ehe er nach immerhin achtzehn Stunden gegen eine Kaution von hundert Dollar auf freien Fuß gesetzt wurde. Seine Ermittlungen verliefen nun wieder in den weniger aufregenden, aber zuverlässigeren Bahnen der Zeitungsrecherche und führten ihn noch einmal in die Bibliothek der Literarischen Gesellschaft von St. Louis.

Nach einem weiteren Tag solider Handwerksarbeit wusste er dann endlich, wer John Lafflin war respektive gewesen war, telegrafierte in den Süden und ließ sogar seine Kaution verfallen, um seinem Telegramm hinterherzureisen – obwohl er bereits vermutete, dass er zu spät kommen würde.

57.

Die körperliche Anstrengung tat ihm gut. Titokowaru hatte auf heiligen Pfaden den Mokau River überschritten und war damit nicht länger in der Provinz Taranaki, sondern in Greys County, nördlich davon. Er war allein unterwegs, und das war Ursache der Anstrengung, aber auch seines Vergnügens. Es gab niemanden, der seinen Proviant trug, niemanden, der den Weg auskundschaftete, sodass er manche Hügel, Abhänge zweimal hinauf-oder hinunterstieg. Es war aber auch niemand da, auf den er Rücksicht nehmen oder den er nach seiner Meinung fragen musste.

Er überlegte, wann er zuletzt so auf sich gestellt, frei, als sein eigener Herr unterwegs gewesen war, und kam auf einen Frühling vor sechsundzwanzig Jahren. Damals, als junger Methodistenlehrer, war er zwischen den weit verstreuten Dörfern hin und her gezogen, um Unterricht zu erteilen. Seither hatte er fast ohne Unterbrechung Männer angeführt, Kriegs-und Friedenspläne geschmiedet, Entscheidungen getroffen, und auch das war ein sehr einsames Leben, aber es war weniger schön. Ein Lächeln lag auf seinem entstellten Gesicht, als er sich an das Erwachen im Wald erinnerte, damals, die Morgenkühle, das frische Grün. Selbst die Luft war jünger gewesen. Nun war es Herbst geworden in seinem Leben, sein Schritt schwerer, und nur manchmal, für Sekunden, glaubte er, dass jener ferne Frühling noch neben ihm ging. Er bemerkte ihn aus den Augenwinkeln, aber wenn er hinsah, war er verschwunden.

Klug sind die Alten und weise, dachte der Häuptling der Ngaruahine, aber sie sind nicht jung.

Vor ihm lagen die Hügel der Mairoa Range, und das feine Rauschen im Tal des Mokau musste bereits von den Wasserfällen verursacht werden. Es war nicht mehr weit bis zu den Höhlen. Das gesamte Kalksteinplateau von Greys County war unterhöhlt, ausgewaschen von unterirdischen Flüssen, deren Verlauf noch völlig unerforscht war und die keine Namen hatten. Titokowaru stieg hinab in die Unterwelt, um sich zu reinigen und um Antworten zu finden; immer wieder waren, durch die Jahrhunderte, Männer und Frauen zu diesem Zweck unter die Erde gegangen. Manche hatten Zeichen hinterlassen, manche waren darin gestorben. Man sah noch hier und da, oft an schwer zugänglichen Stellen, die Skelette dieser Sucher.

Der Häuptling fand unter riesigen Büschen grünen Farns einen niedrigen Einlass. Auf dem Bauch durch das träge fließende Wasser eines kleinen Bachs kriechend, gelangte er in die Erde. Erst nach einigen Dutzend Metern weitete sich der Gang so, dass er sich auf Händen und Knien fortbewegen konnte, aber noch strich die Oberwelt, strichen dünner werdende Baumwurzeln über seinen Rücken. Irgendwann fühlte er, dass der Raum um ihn weiter wurde, und als er sich aufsetzte, sah er die Lichter. Sie sahen aus wie der Sternenhimmel, aber er wusste, sein Vater hatte ihm beigebracht, dass es nur leuchtende Spinnweben waren, in denen blinde Spinnen das Gewürm der Unterwelt fingen, Käfer und im Boden lebende Insekten. Als er sich wieder aufrichten konnte, entzündete er die erste seiner Fackeln, um sich nicht von der trügerischen Schönheit der unterirdischen Lichter verwirren zu lassen, und bewegte sich weiter, immer weiter in die Erde hinein. Irgendwann konnte er stehen. Das Wasser, das seine Beine jetzt bis zu den Knien umspülte, war kalt. Er sah die gewaltige Arbeit, die es in Abertausenden Jahren vollbracht hatte, und hielt nach Zeichen Ausschau.

Erst als die Höhle sich so sehr geweitet hatte, dass er fast trockenen Fußes vorankam, suchte er sich einen Stein, einen Absatz, auf dem er sitzen konnte, und aß ein wenig von seinem Proviant. Die erste Fackel erlosch dabei, aber Titokowaru störte die Dunkelheit nicht. Er stellte vielmehr befriedigt fest, dass er die fluoreszierenden Lichter und damit das letzte Leben der Welt hinter sich gelassen hatte. Nachdem er gegessen hatte, begann er im Dunkeln zu singen und lauschte auf den Klang seiner eigenen Stimme. Die Wände erstickten sie nicht, im Gegenteil. Irgendwo weit voraus hörte er die Steine antworten, von Biegung zu Biegung prallte sein Lied zurück, ehe es sich in der unbekannten, weglosen Tiefe verlor.

Er entzündete die zweite Fackel und ging weiter, fand aber keine Zeichen. Vielleicht war von Anbeginn der Welt kein lebendes Wesen hier gewesen. Er war allein und würde allein bleiben. Niemand, nicht die Mutunga, Te Ati Awa oder Taranaki, wollte an der Seite der Ngaruahine kämpfen. Die Pakeha hingegen sammelten sich, es mochten schon an die tausend Männer sein. Titokowaru hatte noch sechzig Krieger. Fünfzehn zu eins; er war klug genug, um zu wissen, dass ein solcher Kampf zwar ehrenvoll, aber auf Dauer aussichtslos war, und wollte erfahren, unter der Erde, ganz bei sich selbst herausfinden, ob er ihn dennoch beginnen sollte.

Der einsame Wanderer war jetzt bis zu einer Stelle vorgedrungen, an der der im Wasser gelöste Kalk wieder zu sintern begann. Er bemerkte es zuerst an den Wänden, die aussahen wie ein erstarrter, vielfach verwirbelter Fluss. Von oben, von unten, von überall wuchsen ihm nun Steine entgegen, und hier, an den Wurzeln der Berge, fand er, was er suchte. Das Skelett musste uralt sein, denn der Kalkstein hatte schon begonnen, es einzuschließen. Einige Knochen fehlten, vielleicht fortgerissen von der Strömung eines lange vergessenen Flusses, aber der Schädel starrte den Häuptling der Ngaruahine so vertraut an, als hätte er nur auf ihn gewartet, als hätte er von ihm gewusst, schon lange, bevor er geboren wurde.

Titokowaru hockte sich auf die Fersen und hielt die Fackel so, dass der Schatten seines Körpers in die Augenhöhlen des namenlosen Suchers fiel. Lange hockte er so, aber erst als die Fackel erlosch, vollzog sich in der Dunkelheit die Vereinigung von Leben und Tod. Sie waren nun einander gleich.

»Sag mir, was du weißt«, flüsterte Titokowaru.

58.

Nell Fagan hatte noch nicht begriffen, dass sie die Sonne nie wieder sehen würde. Eine eben noch vertretbare Menge Morphium nahm ihr die Schmerzen, und so konnte sie die stark nach Jod riechenden Verbände um ihren Kopf frohgemut für die Anzeichen einer bevorstehenden Heilung halten. Die Dicke dieser Binden hinderte auch ihre tastenden Finger daran festzustellen, dass sie nur noch leere Augenhöhlen bedeckten. Ihre gebrochene Hand, ihren misshandelten Mund hatte man versorgt, und eigentlich war es ihr im Leben nie besser gegangen: Freundliche, aber bestimmt zugreifende Wärterinnen fütterten sie und kümmerten sich um ihre sonstigen leiblichen Bedürfnisse. So musste es sich anfühlen, wenn man reich war.

Von ihrer »Familie« hatte man sie rasch getrennt, und erst während ihres Prozesses erfuhr sie, dass Cousins und Cousinen, ja selbst Onkel Sam Fagan, alle Schuld an nahezu allem ihr zugeschoben hatten. Ansonsten nahm sie nur wenig von dem wahr, was um sie herum vorging, und hörte auch ihr Todesurteil so gleichmütig mit an, als gälte es jemand anderem. Es musste ja jemand anderem gelten! Was für einen Sinn hatte es, eine so aufwendige medizinische Betreuung an eine zum Tode Verurteilte zu verschwenden,warum wurde sie wie eine Königin behandelt? Man würde sie begnadigen, ganz zuletzt. Nur das Klopfen und Hämmern, mit dem im Hof des Gefängnisses ihr Galgen errichtet wurde, verfolgte sie bis in den Schlaf. Aber ihre Blindheit machte es ihr ohnehin schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.