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Nells Henkersmahlzeit war das beste und reichlichste Essen, das sie in ihrem kurzen Leben zu sich genommen hatte. Und selbst als ihr die Arme auf den Rücken gebunden wurden, die rauen Hände der mildtätigen Frauen ihr die Röcke hoben und ihre Körperöffnungen mit Watte verstopften, damit sie nicht im Todeskampf ihre weibliche Ehre beschmutze, fühlte sich das für Nell in ihrer Hilflosigkeit nicht anders an als die vorherige ungewohnte Behandlung. Sie glaubte noch immer nicht, dass sie sterben würde. Und sie schien recht zu behalten.

John Gowers hatte lange überlegt, wie er noch einmal an die Hauptangeklagte im Maguire-Prozess herankommen könnte. Man hatte ihm bedeutet, dass er noch immer verdächtig und ohnehin nur unter Vorbehalt auf freiem Fuß sei; nur aufgrund der Angaben des unglücklichen Maguire – und dessen Aussagen durften nach seiner wahnsinnigen Attacke auf Nell Fagan und seiner Unterbringung in einer Pflegeanstalt für Geisteskranke wieder als zweifelhaft gelten. Derart unzureichend entlastet, schien es für den Investigator, auch aufgrund der haltlosen Anschuldigungen, die er während des Prozesses gegen ein honoriges Mitglied des Stadtrates erhoben hatte, nicht ratsam, eine allzu große Nähe zum Gefängnis, zur Polizei und zu dem ganzen verfahrenen Fall zu suchen.

Den Rest der Fagan-Bande zu sprechen, die als Geringschuldige zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, war lediglich die Sache einiger größerer Geldscheine an einige kleinere Beamte. Sie identifizierten auch unabhängig voneinander das Messer, das in Poll Hunleys Leib gesteckt, das Gowers behalten und auch im Prozess nicht vorgelegt hatte, um sich nicht noch stärker zu belasten, als Eigentum von James Fagan.

Aber Nell, jung, schön und skrupellos, hatte es in der Kolonie in so kurzer Zeit zu einer so schaurigen Berühmtheit gebracht, dass an die Bestechung ihrer Wärterinnen und eine heimliche Befragung nicht zu denken war. Nach ihrer Blendung durch Maguire hatte es sogar nicht an – vorwiegend männlichen – Stimmen gefehlt, die sie für bestraft genug hielten und ihre Begnadigung forderten. Sie hätte ausgerechnet Gowers, dem Mann, der sie in diese Lage gebracht hatte, freiwillig auch nicht einmal gesagt, wo oben und unten ist. Der Investigator überlegte lange, wie er dennoch an eine brauchbare Aussage der Rädelsführerin gelangen könnte, kam zu einem ebenso riskanten wie aussichtsreichen Ergebnis und wartete dann ruhig die Nacht vor der Hinrichtung ab, ehe er eine Kirche aufsuchte.

Niemand kannte den jungen Geistlichen, der angab, den urplötzlich erkrankten Reverend Bowman zu vertreten. Niemandem kam der Verdacht, dass der Reverend in Wahrheit seit zwei Stunden gefesselt und geknebelt im bequemsten Sessel seiner Dienstwohnung leider mehr lag als saß. Denn niemand konnte sich vorstellen, warum irgendwer so dreist und verrückt sein sollte, freiwillig eine der makabersten Rollen im Schauspiel einer staatlich angeordneten Tötung zu spielen; die des Beichtvaters und geistlichen Begleiters auf dem letzten schweren Gang.

»Lassen Sie uns bitte allein«, sagte Gowers, als er die Zelle der bereits behördlich auf ihren Tod vorbereiteten Delinquentin betrat. Niemand wunderte sich, und jeder gehorchte dieser Aufforderung, da man sich von der auch seelischen Stärkung der Todeskandidatin einen ungestörteren Ablauf des mörderischen Vorgangs versprach.

»Nell?« Gowers beugte sich dicht zu der Verurteilten hinunter und flüsterte die Worte in ihr Ohr, denn so respektvoll die Wachen auch den Raum verlassen hatten, die Tür war offen geblieben und der Gang voller aufgeregter Polizisten. »Erkennst du meine Stimme? Ich bin John Gowers und soll dir ein letztes Angebot machen.«

Nell Fagan lächelte. Sie hatte also recht behalten, niemand würde sie hinrichten!

»Ich wusste es«, murmelte sie glücklich.

»Wir wissen, dass es dein Bruder war«, sagte Gowers rasch. »Du wirst begnadigt, wenn du uns hilfst, ihn zu finden. Wo könnte er sein? Wer könnte ihm helfen? Sag mir einfach alle Namen, die dir einfallen!«

Nells Freude, der ungeheure Triumph, noch einmal den richtigen Riecher gehabt zu haben, ließen sie sogar ihren Hass auf den Mann vergessen, der ihre Pläne vereitelt, ihre Hand gebrochen, ihr Gesicht zerschlagen hatte. Arglos sagte sie zum ersten Mal in ihrem Leben alles, was sie wusste. Jamie hatte sie verraten, sie nicht befreit, keinen Finger für sie gerührt. Nun sollte er sehen, wer wen hängen ließ!

Sie wurde zeitweise so laut, dass Gowers sie beschwichtigen musste. Wie ein Priester in der Beichte legte er dann eine Hand vor die Augen, um seinem Gedächtnis die neuen Informationen einzuverleiben.

»Der Gouverneur ist hier im Haus«, sagte er am Ende. »Ich werde jetzt sofort zu ihm gehen. Die Begnadigung wird erst ganz zuletzt verkündet. Denk dir nichts, selbst wenn sie dir den Strick um den Hals legen!« Er wusste nicht, ob er es der jungen Frau damit leichter oder schwerer machte, aber es würde auf jeden Fall dazu führen, dass sie seine Scharade niemandem verriet.

Nell Fagan hörte, wie er zurücktrat, aber sie sah nicht, wie der vermeintliche Priester ein letztes Kreuzzeichen über ihr schlug und den wartenden Wachen ernst zunickte. Widerstandslos ließ sie sich ins Dunkel führen, leichten Herzens stieg sie die knarrenden Stufen zum Galgen hinauf, jede Sekunde des köstlichen Wissens genießend, dass ihr nichts geschehen würde, dass sie gefeit war durch einen geheimen Vertrag mit dem Teufel.

Niemand achtete mehr auf den Priester, alle Augen hingen an der bemerkenswert gefassten Verurteilten. Gowers verfolgte das grausige Schauspiel wie alle anderen und senkte seinen Blick auch nicht, als sich herausstellte, dass die Schlinge schlecht geknüpft war und der Delinquentin nicht das Genick brach. Stattdessen zappelte Nell eine endlose Minute lang wie ein Wurm an der Angel.

59.

Nichts aus Memphis, Helena, White River, Napoleon, Millikens Bend. Kein Schiff in Vicksburg, Grand Gulf, Coles Creek und Natchez. Weder in Baton Rouge noch in Donaldsonville oder Carrolton hatte man auch nur eine Rauchwolke von der Deep South gesehen, und entweder war sie unsichtbar geworden, oder sie fuhr überhaupt nicht nach New Orleans, und alle Informationen dieses Detektivs waren der pure Unsinn gewesen.

Cheever, Huggins, Dick Willoughby, die jüngeren Gentlemen langweilten sich und ärgerten sich, dass sie sich langweilten; so wie unsympathische Knaben sich schon im Vorschulalter ärgern, wenn sie glauben, beim Versteckspiel ein besonders gelungenes Versteck gefunden zu haben, und dann feststellen müssen, dass niemand sie ernsthaft sucht. Desmond Bonneterre steckte sich gar aus purem Trotz eine Zigarre an, obwohl Rauchen im Hafen von New Orleans und damit im Herzen des amerikanischen Baumwollhandels so ziemlich das schwerste und abwegigste Verbrechen war, das ein Mann begehen konnte. In beinahe ungläubigem Zorn gingen nach nicht einmal drei Minuten ein Hafenwächter und ein halbes Dutzend Dockarbeiter auf ihn los, und wohl nur, weil er seine Zigarre sofort ins Wasser warf und anstandslos einhundert Dollar Strafe zahlte, kam er mit heiler Haut davon und zog sich mit seinen Genossen in einen Spielsalon des französischen Viertels zurück.

Die seriöseren Herren, Thomas Enderby, Henry Hunter und der ältere Willoughby, schienen ebenfalls enttäuscht, aber zumindest die beiden Erstgenannten waren auch ein bisschen schadenfroh, denn der von General Willoughby so hoch gepriesene Yankee-Detektiv war ja wohl eine glatte Fehlinvestition ihres Nachbarn gewesen. Keine seiner Informationen war offenbar auch nur einen Schuss Pulver wert, ihre Nigger längst über alle Berge, und als dann auch noch das Telegramm eintraf, in dem John Lafflin als Jean Laffitte identifiziert wurde, grollte Hunter in seinem tiefsten Bass: »Dazu hätte man auch diesen Fachmann für retardierende Elemente engagieren können.« Er war wieder einmal drauf und dran, seine Miliz, die die Anlegestellen entlang des Mississippi besetzt hielt, ohne greifbares Ergebnis nach Hause zu schicken. Am frühen Abend änderte sich jedoch alles mit einem Maclass="underline" Eben noch geschlagen und ratlos, hatten sie nun nicht nur eine Spur ihrer Nigger, sondern über drei Wochen nach seinem Verschwinden von der Bonneterre-Plantage einen der Nigger selbst. Und sie hatten nicht einmal einen Detektiv dazu gebraucht.