Der alte Mann war nicht gekommen, und Deborah wusste nicht mehr weiter. Einen ganzen Tag lang hatte sie am vereinbarten Treffpunkt gewartet, aber nichts war geschehen. Wenn auch morgen nichts geschah, würde sie unverrichteter Dinge nach Barataria zurückkehren und versuchen müssen, die Flüchtlinge auf eigene Faust in den über tausend Meilen entfernten Norden zu bringen, auch wenn das so gut wie aussichtslos war. Ihre Enttäuschung und Erschöpfung waren so groß, dass sie zuletzt nur noch auf den Fluss und die großen Schiffe starrte; wie leicht wäre es, sich einzeln und allein an Bord zu schmuggeln und den Süden wieder einmal hinter sich zu lassen!
Deborah überstand diese Anfechtung nur, weil sie an das Nächstliegende denken musste, riss ihre Augen mit einem Ruck, den sie bis in die Magengrube fühlte, vom Fluss und der Freiheit los, die er versprach. Mit schweren Schritten ging sie in die Stadt zurück, um zuerst Gandalod und dann einen Winkel, ein Kellerloch zu suchen, in dem sie die Nacht verbringen könnten. Bei Tag war es leicht, unauffällig durch das Menschengewimmel zu kommen, aber zwei umherstreifende Schwarze bei Nacht würden mit Sicherheit auffallen. Und aufzufallen würde den Tod bedeuten, nicht nur für sie beide, sondern auch für die drei Dutzend verängstigten, hungrigen Menschen im Sumpf. Wo war Gandalod?
Er hatte noch nie eine so große Stadt gesehen. Ein einziges Mal in seinem Leben war er in Baton Rouge gewesen: als der Sklavenhändler, der ihn als Elfjährigen in Magnolia/Arkansas von seinem bankrotten, versoffenen weißen Vater gekauft hatte, ihn mit einem Gewinn von dreihundertfünfzig Dollar weiterveräußerte. Er hatte sich die Zahlen gemerkt, er war nicht dumm, er wusste das alles noch! Wie der Händler ihm Hemd und Hose heruntergezerrt hatte, auf dem hohen Verkaufspodest, vor aller Augen. Wie sie sein Fleisch, seine Haare betastet, wie sie ihm in den Mund gefasst hatten, wie er hüpfen musste.
»Wie groß war dein Vater, Junge?«, hatte ein fetter, schwitzender Weißer gefragt, als der Händler erwähnte, dass er noch wachsen würde.
»Mein Vater war so weiß wie Ihrer!«, hatte er wütend geantwortet und das dröhnende Gelächter der Zuschauer dafür geerntet.
Als aber einer von ihnen noch einen Trumpf daraufsetzte und rief: »Wenn nicht weißer«, um den Kunden zu verhöhnen, versetzte der erboste Mann dem Jungen einen Faustschlag ins Gesicht, der ihm zwei Schneidezähne herausbrach.
»Sir!«, hatte sich der Händler entrüstet: »Erst kaufen, dann schlagen«, was das allgemeine Gelächter noch steigerte. Der Einkäufer der Bonneterres aber war nun gezwungen, den Jungen zu erwerben – und konnte auf dem Weg zur Plantage schon wieder über sich selbst lachen.
Zwei Dutzend Nigger hatte er eingekauft und aneinandergekettet zu dem großen weißen Haus getrieben. Die feine alte Misses war von der Veranda heruntergekommen, hatte ihre Reihe abgeschritten und dabei in einem dicken Buch geblättert. Jeder der neu erworbenen Sklaven bekam von ihr einen neuen Namen, den er sich merken musste. Aus Pompejus, dem römischen General, von dem ihm sein Vater erzählt hatte, wenn er trank und gut gelaunt war, wurde ein lächerlicher Gandalod, von dem niemand wusste, wer oder was er war.
60.
Bonneterre und Dick Willoughby, ohne Cheever und Huggins, die noch zu sehr Söhne schlagkräftiger Väter waren, hatten eben beschlossen, die Nacht in einem Bordell zu verbringen, als sich ohne Vorwarnung ein offenbar wahnsinniger Nigger auf sie stürzte, Willoughby niederschlug und Bonneterre zu Boden warf, ehe der noch seinen Stock heben konnte.
Längelang auf dem Rücken liegend dachte der elegante junge Kreole noch, dass der Mann sich jetzt so schnell wie möglich aus dem Staub machen würde, fühlte aber dann dessen Hände an seinem Hals und sah in zwei hasserfüllte Augen und ein wutverzerrtes Gesicht. Der Bursche wollte ihn töten, sein kostbares weißes Leben aus ihm herauswürgen, aber warum?
Gandalod hatte seinen jungen Herrn schon von Weitem an seinem Spazierstock erkannt und sich sogar umgedreht, um davonzulaufen. Aber er war wie gelähmt. Seine Arme und Beine zitterten vor Schreck, vor Hass, vor Hunger. Seine Gedanken überschlugen sich; wenn auch Bonneterre ihn erkannt hatte, würde er ihm nachlaufen und ihn, geschwächt, wie er war, sicher erwischen.
Sich zu verstecken, klein zu machen, sein Gesicht wegzudrehen barg das gleiche Risiko. Aber zuschlagen, töten – das würde Massa Bonneterre nicht erwarten, das erwarteten die Weißen nie, darin lag seine einzige Chance! Gleichzeitig wusste er, dass nichts davon stimmte. Hass trieb ihn, Rache. Dieser elegante, ölige junge Mann war dabei gewesen, damals, als vier Aufseher ihn vor den Augen Darioletas an das schmiedeeiserne Geländer der Veranda gebunden hatten und …
Aber nicht jetzt! Jetzt war Gandalod frei, und dieser Gedanke trieb mit einem Schlag die Wärme in sein Blut zurück, und er dachte nichts anderes mehr, als er sich auf den schmalen Weißen stürzte.
Er wusste es wieder, wusste es, als hätten die schweren schwarzen Finger an seiner Kehle zuallererst die Erinnerung aus ihm herausgepresst. Bonneterre erkannte den Mann, wusste nur seinen Namen nicht mehr. Er war dabei gewesen, als man diesen ungebärdigen Feldsklaven, bei dem selbst Peitsche und Halseisen nichts mehr bewirkten, auf Befehl seiner Mutter zum Kapaun gemacht hatte, um ihm die Flausen endgültig auszutreiben – mit der gleichen Zange, die man auch bei den Schweinen benutzte. Er hatte Darioleta, die sich von diesem großen schwarzen Vieh hatte küssen lassen, gezwungen, dabei zuzusehen, und ihren Kopf festgehalten, als sie sich wegdrehen wollte.
Es war, als würden seine Augen aus ihren Höhlen getrieben, die Zunge quoll ihm aus dem Mund, sein eigener Speichel floss ihm bis in die Ohren, und es kam Bonneterre vor, als würde sein Schädel anschwellen vor Luftnot. Schon nach wenigen Sekunden bestand er nur noch aus Todesangst und hörte sogar auf, mit seinem Stock auf den anscheinend völlig unempfindlichen Rücken des Niggers einzuschlagen, der auf ihm hockte wie ein zerlumpter, fleischgewordener Alptraum.
Deborah hörte den Lärm, als sie noch in einer Seitengasse war, und wollte sich schon umdrehen und einen anderen Weg nehmen. Dann bemerkte sie, dass alle anderen, auch die Schwarzen, in Richtung des Lärms liefen und es auffälliger gewesen wäre, gegen den Strom zu schwimmen. Also ließ sie sich mitreißen in die Hauptstraße des französischen Viertels, hielt sich aber im Hintergrund, dicht an eine Hauswand gepresst. Es war ohnehin nicht sehr viel zu sehen; eine Traube von Männern stand dichter gedrängt als die übrigen Zuschauer um ein Zentrum, in dem Deborah nichts erkennen konnte als geschüttelte Fäuste und wütende Gesichter.
Plötzlich wandten sich ihr all diese Gesichter zu, und ihr Herzschlag jagte in ihren Schläfen. Aber dann sah sie, dass dieses Interesse nicht ihr galt. Aus dem Hauseingang, in dem sie stand, erschien vielmehr ein kleiner, dünner Mann mit einem Strick und wurde johlend, mit viel Schulterklopfen begrüßt, als habe er als Einziger inmitten der allgemeinen Hysterie einen klaren Kopf bewahrt. Die Menge teilte sich vor dem Mann, und Deborah konnte einen kurzen Blick in die entstehende Gasse werfen. Die Männer im inneren Kreis hielten ein seltsames, großes Bündel gepackt, das schlaff und widerstandslos von ihren Händen mehr aufrecht gehalten als niedergedrückt wurde.