Wir kletterten auf die alte Weide, die auf halber Höhe an der Böschung des Deichs wuchs, und setzten uns auf einen Ast, der über das Wasser ragte. Die Zweige des Astes hingen ins Wasser und rührten immerfort viele kleine Wellenschnüre auf.
»Was gibt’s denn? Nun sag schon!«
»Du musst mir zuerst schwören, dass du das Geheimnis niemandem weitersagst.«
»Gut. Ich schwöre: Wenn ich Wang Lebers Geheimnis ausplaudere, will ich in den Fluss fallen und ertrinken.«
»Ich habe ... heute ... den Brief, den ich ihr geschrieben habe, eingeworfen«, sagte er mit kreideweißem Gesicht und bibbernden Lippen.
»Welchen Brief an wen? Was ist das überhaupt für ein feierlich ernster Ton? Hast du an den Vorsitzenden Mao geschrieben, oder was?«
»Wo denkst du hin? Was habe ich mit dem Vorsitzenden Mao zu schaffen? Ich habe ihr geschrieben. Ihr!«
»Ihr? Wen meinst du?« Ich wurde ungeduldig.
»Du hast geschworen, dass du nie und nimmer mein Geheimnis preisgibst.«
»Nie und nimmer.«
»Wozu in die Ferne schweifen, sieh das Gute liegt so nah!«
»Hör auf, mich auf die Folter zu spannen!«
»Es ist ...«, Lebers Augen hatten seltsam zu leuchten begonnen. Wie von einem fernen Stern sprach er zu mir: »... meine Shizi ...«
»Warum schreibst du ihr? Willst du sie heiraten?«
»Wie kannst du nur so berechnend denken?«, erklärte Wang Leber voll Inbrunst. »Kleiner Löwe, meine Allerliebste! Dir will ich meine Jugend, meine ganze Lebenskraft in heißer Liebe zu Füßen legen. Meine Geliebte! Meine engste Vertraute! Nimm mir bitte nicht übel, dass ich wohl hundert Mal deinen geschriebenen Namen küsste ...«
Ich bekam eine Gänsehaut, mir lief es kalt den Rücken herunter. Wang Leber rezitierte augenscheinlich seinen Liebesbrief. Er hielt mit beiden Armen den Baumstamm umfangen, Tränen glitzerten in seinen Augen, als er sein Gesicht gegen die raue Rinde presste.
»Seit ich dich bei Renner zu Hause zum ersten Mal sah, hast du mich nicht mehr losgelassen. Von jenem Augenblick an bis jetzt und bis in alle Ewigkeit schlägt mein Herz nur für dich. Wenn du mein Herz willst, gebe ich es dir. Selbst wenn du es essen wolltest, risse ich es mir ohne Zögern aus dem Leibe. So verliebt bin ich in deine geröteten Wangen und die quirlige Nasenspitze, deine samtweichen Lippen, dein wuscheliges Haar und deine strahlenden Augen. Ich bin vernarrt in deine Stimme, deinen Geruch, dein Lächeln. Und wenn du lächelst, will mir schwindlig werden, verschwimmt mir alles vor Augen. Dann will ich dir zu Füßen knien, deine Beine umfassen und dein Lächeln anschauen.«
Der Koch Wang riss die Angel schwungvoll hoch und mit einem Ruck nach hinten. Von der blitzenden Schnur spritzten die Wassertropfen wie Perlen. Sie glitzerten im Sonnenlicht. Die teeschalengroße, sandfarbene kleine Weichschildkröte am Angelhaken knallte heftig auf die Uferböschung. Durch den Aufprall war sie benommen. Niedlich und erbärmlich zugleich sah sie aus, wie sie auf dem Rücken lag, ihren weißen Bauch zeigte und alle viere gen Himmel streckte.
Li Hand rief fröhlich: »Eine Schildkröte!«
»Liebste, ich bin nur ein Bauernsohn, habe eine schlechte Herkunft. Du bist Frauenärztin, ernährst dich von gekauftem Getreide. Das gesellschaftliche Ansehen von uns beiden ist sehr unterschiedlich. Vielleicht würdigst du mich keines Blickes. Vielleicht ertönt nur ein abschätziges Lachen aus deinem hübschen kleinen Mund, wenn du meinen Brief zu Ende gelesen hast. Und dann zerreißt du ihn. Oder du liest ihn gar nicht erst und wirfst ihn sofort in den Papierkorb. Aber ich möchte dir, Liebste, meine Allerallerliebste, sagen: Wenn du meine Liebe erhörst, werde ich wie der wilde Tiger sein, dem Flügel gewachsen sind, wie das edle Ross, das seinen Sattel gefunden hat: Ich werde unbändige Kräfte besitzen. Wie wenn man eine Spritze Hühnerblut bekommt, werde ich vor Energie strotzen. Dann werde ich auch Brot und Milch haben! Ich werde mit deiner Unterstützung auch zu einem werden, der Lebensmittel im Laden einkauft. Ich werde meinen gesellschaftlichen Status ändern, wenn ich nur mit dir zusammen sein kann.«
»Heh! Was macht ihr beide da auf dem Baum? Lest ihr euch Romane vor?« Li Hand hatte mich entdeckt und fragte in lautem Ton.
»... Liebste, wenn du mich nicht erhörst, werde ich mich nicht zurückziehen, werde nicht aufgeben. Ich werde dir folgen. Still. Wohin du auch gehst. Ich werde am Boden knien und deine Fußspuren küssen. Ich werde an deinem Fenster stehen und auf den Lichtschein im Zimmer schauen; wenn das Licht angeknipst wird, werde ich da sein, bis es gelöscht ist. Ich werde wie eine Kerze für dich brennen. Bis ich heruntergebrannt bin. Du meine Liebste! Wenn ich für dich an Bluthusten sterbe und du mir gnädig bist, an mein Grab kommst und nach mir schaust, so will ich’s zufrieden sein. Wenn du für mich eine Träne vergießt, sterbe ich ohne Reue. Denn deine Tränen, du meine einzig Liebste, sind die wunderbare Medizin, die mich von den Toten wiederauferstehen und ins Leben zurückkehren lässt.«
Die Gänsehaut auf meinen Armen verschwand allmählich. Seine liebestollen Rezitationen rührten mich. Ich hatte nicht erwartet, dass seine große Verliebtheit in Shizi aus ihm einen Trunkenen, Tollen machen würde, nicht erwartet, dass er eine so blumige Sprache schreiben konnte, nicht erwartet, dass dieser Liebesbrief in eine tränenreiche Klage münden würde. Im selben Augenblick spürte ich, dass Wang Leber mir den Weg zeigte, dass er mir die Tür von der Kinderzeit in die Teenagerzeit weit aufstieß. Obwohl ich damals von der Liebe nichts wusste, war ich von diesem hellen Strahlen so gefangengenommen, dass ich ihm todesmutig entgegenstürzte, wie eine Motte, die ins lichterloh brennende Feuer fliegt.
»Wenn du sie so sehr liebst, liebt sie dich bestimmt auch.«
»Glaubst du wirklich?« Ganz fest drückte er meine Hand und seine Augen begannen wieder so magisch zu strahlen: »Glaubst du wirklich, dass sie mich lieben wird?«
Ich gab ihm einen festen Händedruck: »Auf jeden Fall! Und wenn es nicht klappt, dann sage ich meiner Tante Bescheid, damit sie vermittelt. Kleiner Löwe hört immer auf meine Tante.«
»Nein, das will ich nicht! Ich will mir nicht von anderen dabei helfen lassen. Gewaltsam gepflückte Melonen sind nicht süß. Ich möchte ihr Herz mit Ausdauer und Beharrlichkeit erobern.«
Li Hand schaute zu uns nach oben in den Baum: »Was treibt ihr da für einen Schabernack?«
Der Koch Wang griff einen Batzen Matsche und bewarf uns damit: »Hört auf, da herumzukrakeelen! Ihr verscheucht mir die Fische!«
Flussaufwärts kam ein rotblau gestrichenes, mit einem Dieselmotor betriebenes Patrouillenboot aus Stahlblech auf uns zugefahren, der Außenborder ratterte. Alle befiel eine heftige Unruhe. Reißend stürzten die Wassermassen flussabwärts, während das Boot langsam gegen die Strömung fuhr. Am Bug schlugen schäumend die Wellen hoch und teilten sich wie Feldraine zu beiden Seiten des Schiffkörpers in zwei Wellensäume, die auseinanderdrifteten und allmählich wieder zusammenliefen. Aus dem hellblauen Nebel, der über dem Fluss schwebte, stieg ein Geruch von verbranntem Diesel auf und verteilte sich bis zu unseren Nasen. Wohl zwanzig graue Möwen folgten dem kleinen Boot.
Es handelte sich um das Patrouillenboot des Kommunekomitees zur Geburtenplanung. Meine Tante Gugu benutzte das Boot als Fortbewegungsmittel. Klar, dass auch ihre Assistentin Kleiner Löwe mitfuhr. Der Kreis hatte das Boot zur Verfügung gestellt, weil man verhindern wollte, dass, wenn die Brücke während der Hochwassersaison überschwemmt war, am anderen Ufer Ordnungsverstöße ungeahndet blieben. Denn wer wusste, was dann in Sachen unerlaubte Schwangerschaften dort passieren würde? Um während der Hochwasserzeit an der Front der Geburtenplanung die knallrote Fahne hochzuhalten, damit es in unserer Kommune nicht zu überzähligen Kindern jenseits der Plansolls kam, dafür war dieses Boot unterwegs. Auf dem Boot gab es eine winzige Kajüte, in der man sich auf zwei Reihen mit Skyleder bezogener Sitzbänke niederlassen konnte. Am Heck befand sich ein mit Diesel betriebener 12-PS-Außenbordmotor, am Bug waren zwei Hochfrequenzlautsprecher befestigt, aus denen eine Mao-Hymne schallte. Es war eine Volksweise aus Hunan, eine liebliche, angenehme Melodie. Der Bug schwenkte um, und das Boot fuhr auf unser Dorf zu. Jemand hatte die Musik abgestellt. In der plötzlichen Stille stach das Rattern des Dieselmotors richtig ins Ohr. Jetzt ertönte auch Gugus heisere Stimme: »Unser großartiger Führer, der Vorsitzende Mao, heißt uns zu beherzigen, dass die Menschheit sich bescheiden soll und nur noch planvoll wachsen darf ...«