Als Gugus Boot in Sichtweite kam, verstummte Wang Leber augenblicklich. Ich sah, wie sein Körper zitterte, wie er mit halb geöffnetem Mund, mit tränenfeuchten Augen auf das Boot starrte. Als es die Flussmitte überquerte und Schräglage bekam, stieß er einen Schrei aus. Er fuhr zusammen, als wolle er in den Fluss springen. Das Boot kam nun in schnellem Tempo mit gleichmäßig tuckerndem Motor auf uns zu gefahren. Meine Tante und Kleiner Löwe kamen!
Bootsführer war der uns allen vertraute Qin Strom. Sein großer Bruder war nach der Kulturrevolution rehabilitiert worden und nun wieder Parteisekretär. Als Funktionär fühlte er sich durch seinen kleinen Bruder kompromittiert, wenn dieser auf dem Markt bettelte. Daran änderten auch dessen feine Umgangsformen nichts. Er versuchte, mit ihm zu verhandeln.
Qin Strom stellte eine ungewöhnliche Bedingung: »Besorg mir eine Arbeit in der Abteilung für Frauenmedizin der Kommunekrankenstation!«
»Du bist ein Mann. Wie willst du da auf der gynäkologischen Station arbeiten?«
»Es gibt doch viele männliche Frauenärzte!«
»Du verstehst aber nichts von Medizin!«
»Warum muss ich Mediziner sein, um dort zu arbeiten?«
»Nun gut!«
So wurde er zum Berufsbootsführer des Stationsboots der Abteilung für Geburtenplanung und arbeitete von da an mit meiner Tante zusammen. Wenn gefahren werden musste, fuhr er, wenn nicht gefahren wurde, saß er im Boot und döste.
Er trug sein Haar immer noch in der Mitte gescheitelt wie die Studenten der Bewegung des Vierten Mai, die man aus dem Fernsehen kennt. Auch im Hochsommer trug er seine dicke Schüleruniform aus Gabardine, in der Brusttasche steckten immer noch seine beiden Stifte – der Füller und der Zweifarben-Kuli –, aber seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert. Er war sonnengebräunt. Mit beiden Händen hielt er das Steuerrad und manövrierte das Boot nahe an die Uferböschung auf den alten Weidenbaum zu. Er drosselte den Motor, dafür schallten die Hochfrequenzlautsprecher in so trommelfellerschütternder Lautstärke, dass uns die Ohren summten.
Links neben der schiefnackigen alten Weide war auf Geheiß der Kommune vorübergehend eine Anlegestelle für das Patrouillenboot errichtet worden. Vier mächtige Baumstämme hatte man in den Grund des Flusses getrieben, mit Draht Querhölzer daran festgemacht und darauf Bretter für den Bootssteg gelegt. Qin Strom machte das Boot fest und stellte sich vorn am Bug auf. Das Motorengeräusch erstarb, der Krach aus den Lautsprechern auch. Wir konnten nun wieder das Kreischen der Möwen und die klatschenden Wellen hören.
Gugu kam als erste aus der Kajüte. Als das Boot schwankte, verlor sie das Gleichgewicht, aber Qin Strom streckte ihr sofort eine Hand entgegen, um sie zu stützen. Sie wehrte ihn jedoch ab und sprang mit einem Satz auf den Steg. Trotz ihrer Wohlstandsspeckrollen hatte sie nichts von ihrem Elan verloren. Ich bemerkte einen blendend weißen Mullverband, den sie um die Stirn trug.
Als zweite verließ Kleiner Löwe die Kajüte. Kleinwüchsig und pummelig, wie sie war, sah sie mit dem großen Arzttornister auf dem Rücken winzig aus. Sie war wesentlich jünger als meine Tante, aber behäbiger. Ausgerechnet ihretwegen klammerte Wang Leber sich jetzt mit leichenblassem Gesicht und tränenvollen Augen an den Stamm der alten Weide.
Die dritte Person, die aus der Bootskajüte hervorkam, war Huang Qiuya. In den paar Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, hatte sie einen krummen Rücken, krumme Beine und eine noch höhere Stirn bekommen. Sie bewegte sich nur noch langsam. Schwankend stand sie im Boot, mit beiden Armen rudernd, als könnte sie jeden Augenblick umfallen. Offensichtlich wollte sie auch an Land, nur schienen die Beine ihr nicht zu gehorchen. Den entscheidenden Schritt aus dem Boot hinaus auf den Bootssteg schaffte sie nicht. Qin Strom schaute ihr ungerührt zu, er half ihr nicht. Als sie sich bückte und wie ein Gorilla mit beiden Händen die Kante des Bootsstegs packte, rief ihr Gugu in scharfem Befehlston zu: »Huang Qiuya, du bleibst an Bord.« Meine Tante blickte nicht zurück, während sie anordnete: »Aufpassen, dass sie sich nicht davonmacht!«
Das hatte wohl beiden, Qin Strom und Huang Qiuya, gegolten. Qin Strom hatte sich sofort gebückt und im Boot nachgeschaut. Aus dem Innern des Bootes hörte ich das Schluchzen einer Frau.
Meine Tante ging mit Riesenschritten nach rechts an der Uferböschung entlang. Kleiner Löwe folgte ihr rennend, anders konnte sie nicht Schritt halten. Ich bemerkte, dass der Mullverband an Gugus Stirn Blutflecken aufwies und dass sie ein angespanntes Gesicht und einen harten Blick hatte. Ihr Gesicht zeigte unerschütterliche Entschlossenheit. Leber hatte meine Tante natürlich gar nicht wahrgenommen, weil er nur Augen für Shizi hatte. Seine Zähne klapperten furchtbar, seine Lippen bewegten sich unentwegt, er schien irgendetwas vor sich herzubeten. Ich bedauerte ihn, doch noch mehr beeindruckte er mich. Damals verstand ich nicht, dass ein Mann, wenn er sich in eine Frau verliebt, in ein komplettes Gefühlschaos geraten kann.
Erst nachträglich erfuhren wir, dass ein Kerl aus dem zanksüchtigen Dorf Dongfeng, der sich schon vor der Befreiung 1949 wie ein Bandit aufgeführt hatte, der drei Töchter besaß und dessen Frau mit dem vierten Kind schwanger war, meiner Tante mit einem Knüppel den Kopf blutig geschlagen hatte. Zhang Faust hieß er, hatte ein Paar Kulleraugen wie ein Rind, einen erstklassigen Familienhintergrund und war im ganzen Dorf bekannt als ein Kraftprotz, dessen Zorn man nicht ungestraft erregte. In Dongfeng war bei fast allen Frauen im gebärfähigen Alter, die zwei Kinder geboren hatten und bei denen eines ein Junge geworden war, die Sterilisation bereits durchgeführt worden. Diejenigen, die zwei Mädchen bekommen hatten, durften mit der Sterilisation noch warten, unter der Bedingung, dass sie sich eine Spirale einsetzen ließen. Meine Tante wollte sie nicht zwingen, erwartete aber, dass sie Rücksicht auf ihr Dorf nahmen. Wer aber schon drei Kinder hatte, der musste sich sterilisieren lassen, auch wenn es nur Mädchen waren. Die einzige Frau im Dorf, die nicht zur Sterilisation erschienen war, die keine Spirale trug und die dann auch noch schwanger geworden war, war Fausts Frau. Meine Tante ignorierte den heftigen Regen und fuhr mit dem Patrouillenboot bis nach Dongfeng, um sie dazu zu bringen, in die Krankenstation mitzukommen, um dort einen Abort einleiten zu lassen. Während sie auf dem Weg dorthin war, telefonierte der Kommuneparteisekretär Qin Shan mit Dongfengs Parteizellensekretär, Zhang Goldzahn, und gab den ausdrücklichen Befehl, alle Kräfte zu mobilisieren, um die Ehefrau Fausts in die Kommune zu bringen, damit der Abort eingeleitet würde.
Tante erzählte, dass Faust sie mit einem dornigen Aralienknüppel in der Hand und mit rotglühenden Augen laut brüllend am Hoftor erwartet habe. Zhang Goldzahn und die Dorfmilizionäre hätten ihn eingekreist, aber nur in angemessener Entfernung, denn es habe sich keiner in seine Nähe getraut. Seine drei Töchter hätten am Tor auf Knien, mit schniefenden Nasen und in Tränen aufgelöst gefleht, fast wie eingeübt habe es geklungen: »Ihr lieben großherzigen Großonkel und Großtanten, ihr lieben großherzigen Großväter und Großmütter, ihr lieben großherzigen großen Brüder und Schwestern! Bitte erbarmt euch unserer Mutter! Bitte fasst euch ein Herz! Unsere Mutter ist herzkrank, sie hat ein rheumatisches Fieber. Wenn sie eine Abtreibung machen muss, wird sie daran sterben. Wenn unsere Mutter tot ist, sind wir Halbwaisen und haben keine Mutter mehr!«