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Kaulquappe

Peking, am Neujahrsmorgen 2004

1

Nachdem ich meine Frau Renmei beerdigt hatte und meine Familie wieder sicher zu Hause angelangt war, kehrte ich in Windeseile zur Truppe zurück.

Ein voller Monat verging. Da erreichte mich wieder ein Telegramm:

Mutter ist gestorben. Komm schnell nach Hause.

Ich ging mit dem Telegramm zu meinem Vorgesetzen, um Urlaub zu beantragen, gleichzeitig gab ich noch schnell ein Gesuch ab, in dem ich um meine Entlassung aus dem Militärdienst und die Rückkehr ins zivile Leben bat.

An dem Abend, an dem ich meine Mutter beerdigte, ergoss sich das weiche helle Mondlicht wie ein silbernes Band in unseren Hof. Meine Tochter schlief unter dem Birnbaum auf einer Strohmatte, mein Vater hielt ihr mit einem Fächer die Mücken vom Leib. Auf dem Gerüst mit den Zuckerschoten zirpten laut die Heupferdchen, vom Fluss her tönte das Rauschen des Wassers.

»Es ist wohl trotz alledem besser, eine neue Frau zu suchen«, seufzte mein Vater. »Ohne Frau im Haus fehlt einem das Gefühl, zu Hause zu sein.«

»Ich habe meine Entlassung schon eingereicht, warte noch damit, bis ich wieder zurück bin.«

»Was hatten wir es gut! Und nun ist von einem zum anderen Augenblick alles in Scherben«, klagte mein Vater, »und wir wissen nicht einmal, wem wir die Schuld dafür geben sollen.«

»Eigentlich ist es ja auch nicht Gugus Schuld. Sie hat keinen Fehler gemacht.«

»Ich hab auch gar nicht gesagt, dass ich sie dafür verurteile. Es ist wohl Schicksal«, sagte mein Vater.

»Es gibt niemanden, der unserem Land so bedingungslos, so treu bis in den Tod, zu Diensten ist. Die politischen Ziele unserer Führung sind eben nicht anders umsetzbar.«

»Es ist ja nachvollziehbar, dass es geschehen ist. Aber warum musste ausgerechnet sie es sein, die es getan hat? Als sie die Schere ins Bein gerammt bekam, dass das Blut spritzte, hat sie mir aber doch leidgetan. Immerhin ist sie meine kleine Cousine.«

Ich sagte nur: »Es musste wohl so kommen.«

2

Vater erzählte mir, dass sich nach Schwiegermutters Scherenstich die Wunde an Gugus Bein entzündet und sie hohes Fieber bekommen habe. Trotz des Fiebers sei sie mit ihrer Truppe unterwegs gewesen, um Wang Galle festzunehmen.

Eigentlich gehört der Begriff »Festnahme« zum Vokabular der Polizei und ist nicht ganz passend, aber im Grunde handelte es sich doch um eine Festnahme wie bei einem Verbrecher.

Bei Galle zu Hause war alles fest verrammelt, kein Hahn, kein Hund muckste sich. Gugu ließ das Tor aufbrechen und verschaffte sich gewaltsam Zutritt.

»Irgendjemand muss es deiner Tante gesteckt haben«, sagte mein Vater.

Sie humpelte zu den Wangs ins Haus hinein, ging zum Herd und lüftete den Deckel des Wok. Es war noch Reissuppe darin. Sie prüfte die Temperatur mit dem Finger.

»Aha, noch warm!« Gugu ließ ihr eisiges Lachen hören und brüllte: »Chen Nase! Wang Galle! Kommt ihr freiwillig raus? Oder soll ich euch wie Flöhe aus eurem Loch rauspicken?«

Kein Ton. Im Haus hätte man eine Stecknadel fallen hören. Gugu deutete auf den Wandschrank in der Ecke des Raums. Ein paar alte Kleider, sonst nichts. Sie wies ihre Leute an, alles hinauszuwerfen, so dass der Schrankboden sichtbar wurde. Dann griff sie sich ein Nudelholz und hämmerte damit auf den Boden ein. Ein paar Schläge und sie hatte ein Loch hineingehauen.

Sie brüllte wieder: »Kommt raus da, ihr Partisanen! Oder soll ich Wasser einfüllen?«

Zuerst kam die kleine Chen Ohr hervorgekrabbelt. Sie war kalkweiß im Gesicht, wie eine kleine Tempelschamanin. Sie weinte nicht, sondern lachte glucksend. Als Zweiter stieg Chen Nase aus dem Erdloch heraus. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, sein krauses Haar wirr, angezogen war er nur mit einem Schweißhemd, aus dem das Brusthaar hervorlugte. Er sah richtig heruntergekommen aus. Der Riesenkerl von einem Mann fiel plumpsend vor Gugu auf die Knie und schlug in einem Fort mit dem Kopf auf den Boden. Während er unablässig vor ihr Kotau machte, schluchzte er so markerschütternd, dass das ganze Dorf erzitterte.

»Tante, Gugu, meine liebste Gugu, sieh es so: Ich bin das erste Kind, das du auf die Welt gezogen hast! Bitte denk auch daran, dass Galle nur eine halbe Portion ist. Lass Gnade walten! Gib nur ein Zeichen mit deiner teuren Hand und verschone uns! Tante, meine Familie wird es dir in alle Ewigkeit mit Dankbarkeit vergelten, dir deinen Großmut und deine Tugend danken!«

Vater erzählte, dass alle, die dabei gestanden hatten, später berichteten, Gugu habe mit Tränen in den Augen geantwortet: »Chen Nase, mein lieber Nase, diese Angelegenheit hat mit mir persönlich nichts zu tun. Wenn ich zu entscheiden hätte, dann wär’s ja keine Frage. Wenn du meine Hand wolltest: Abhacken würde ich sie für dich! Und ich würde sie dir geben!«

»Tante, lass Gnade walten!«

Die kleine Ohr war ein kluges Persönchen. Sofort machte sie ihren Papa nach und kniete nieder, um vor Gugu Kotau zu machen. Sie wiederholte immer nur den einen Satz:

»Lass Gnade walten! Lass Gnade walten!«

Dann, fuhr mein Vater fort, sei da aber dieses Heer von schaulustigen Gaffern gewesen, allen voran Wuguan. Der habe mit seiner Schmalzstimme noch einen draufgesetzt, als er begonnen habe, das Titellied aus dem Film Tunnelkrieg zu schmettern:

Tunnelkrieg! He! Tunnelkrieg!

Hunderttausend tapfre Soldaten im Hinterhalt.

In der grenzenlosen Ebene

wird Tunnelkrieg geführt.

Die japanischen Teufel werden vertrieben,

damit sie ein für alle Mal ausgemerzt sind.

Und dann habe er ein weiteres Lied aus der Mitte des Films angefügt:

Vergiss die Worte

deines Führers Mao Tse-tung nicht

und bewahre sie in deinem Herzen!«

Gugu wischte sich übers Gesicht und sagte mit versteinerter Miene:

»Es reicht, Nase. Mach schon, und hol Galle da raus!«

Er rutschte auf Knien zur Tante und umklammerte ihr Bein, seine Kleine tat es ihm nach und umklammerte Gugus anderes Bein.

Wieder hörte man Wuguan im Hof dieses Tunnelkrieg-Lied plärren:

In der grenzenlosen Ebene

wird Tunnelkrieg geführt.

Trauen sich die Invasoren her,

schlagen wir sie schnell zurück.

Dass die Köpfe nur so fliegen,

dass es die Pferde niedermäht!

Denn das ganze Volk macht mit,

denn das ganze Volk wird sterilisiert,

denn das ganze Volk verhütet gründlich

jede Schwangerschaft!

Die Tante wollte sich befreien, konnte aber die Umklammerung nicht lösen. So befahl sie schließlich ihren Leuten: »Steigt in das Erdloch runter!«

Ein Milizionär kletterte, die Taschenlampe im Mund, in den unterirdischen Gang. Der nächste stieg hinab. Sie brüllten aus dem Loch herauf: »Keiner drin!«

Gugu packte so der Zorn, dass sie das Gleichgewicht verlor und ohnmächtig zu Boden sank.

Vater sagte: »Chen Nase hat sie wirklich ausgetrickst. Du weißt doch, dass er hinter dem Haus einen Gemüsegarten hat? Dort gibt es einen Brunnen mit einer Seilwinde. Der unterirdische Gang führte bis dicht an den Brunnenschacht. Wie die kleine Galle es wohl geschafft hat, durch den langen Gang zu kriechen, sich dann durchzugraben – wo sie die viele Erde wohl hingetan hat? –, sich am Seil hochzuhangeln und aus dem Brunnen herauszuklettern, während Nase und Ohr die Tante umklammert hielten. Wirklich ein schweres Stück Arbeit! Dass so ein kleines Persönchen das schafft, noch dazu im hochschwangeren Zustand.«