In den paar Monaten, in denen ich sie nicht gesehen hatte, schien sie merklich gealtert.
Sie kniete vor Mutters Grab nieder und begann sofort laut zu weinen. Niemals vorher hatten wir sie so weinen sehen, wir waren ganz erschüttert. Kleiner Löwe stand ehrerbietig mit tränenfeuchten Augen an ihrer Seite, derweil ein paar Frauen zu ihr traten, sie beruhigten und ihr hoch halfen. Aber sobald sie sie losließen, warf sich die Tante gleich wieder vor Mutters Grab nieder und weinte noch herzzerreißender. Die Frauen, die sich bereits beruhigt hatten und nicht mehr weinten, ließen sich von Gugus Weinen anstecken. Alle traten wieder zum Grab und begannen von neuem. Sie weinten, dass Himmel und Erde erzitterten.
Ich bückte mich und zog Gugu hoch, Kleiner Löwe flüsterte mir zu: »Lass sie weinen, sie hat die Tränen zu lange zurückgehalten.«
Ich fühlte mich getröstet, als ich Shizis Anteilnahme spürte.
Dann hatte Gugu sich ausgeweint.
Sie erhob sich und wischte ihre Tränen ab: »Kleiner Renner, Vorsitzende Yang hat mich angerufen. Du willst deinen Dienst quittieren und die Truppe verlassen?«
»Richtig, ich habe mein Entlassungsgesuch bereits eingereicht.«
»Vorsitzende Yang wünscht sich, dass ich dich umstimme«, sagte Gugu. »Sie hat mit den leitenden Kadern aus der Stabsabteilung bereits alles abgesprochen. Du wirst in die Abteilung Geburtenplanung versetzt und bist sodann ihr unterstellt. Das bedeutet eine vorzeitige Beförderung in den Rang eines Reservebataillonskommandeurs. Sie schätzt dich sehr.«
»Das macht keinen Sinn mehr. Da schaufele ich lieber Scheiße, als dass ich zur Geburtenplanung gehe.«
»Hier liegst du falsch. Die Geburtenplanung ist auch ein Teil der Parteiarbeit. Sie ist genauso wichtig.«
»Tante, Ihr ruft bitte die Vorsitzende Yang für mich an und bedankt Euch an meiner Stelle für die Fürsorglichkeit. Aber ich werde lieber meinen Dienst quittieren. Ich mag meinen alten Vater und mein kleines Kind nicht allein zu Hause lassen. Wir müssen ja schließlich weiter zurechtkommen.«
»Nun verdirb nicht gleich alles, sondern überleg erst einmal in Ruhe. Ob du es dir wirklich leisten kannst, die Truppe zu verlassen? Am besten bleibst du doch dabei. Die Arbeit an der Basis ist schwer. Schau dir die Vorsitzende Yang Herz und schau dir mich an. Wir arbeiten beide für die Geburtenplanung. Sie pflegt sich und frönt dem Müßiggang. Und ich? Ich wühle mich hier durch, blutverschmiert und tränenüberströmt. Manchmal frage ich mich wirklich, was aus mir geworden ist.«
4
Ich gebe es ja zu. Ich bin jemand, der nach Ruhm und Profit giert. Ich töne groß herum, dass ich meinen Dienst quittiere, dass ich das Entlassungsgesuch eingereicht habe, ziehe es aber sofort wieder zurück, als ich von einer vorgezogenen Beförderung höre. Ich höre, die Vorsitzende Yang schätzt mich, und schon werde ich schwach.
Wieder zu Hause, erzählte ich meinem Vater davon. Er war ebenfalls dagegen, dass ich die Truppe verließ.
»Denn damals erwies dein Großonkel dem Kommandanten Yang eine Gefälligkeit und heilte sein Bein, und die Krankheiten von dessen Frau heilte er auch. Wenn du jetzt zu einer so hohen Beamtin gute Verbindungen hältst, sollten deine Zukunftsaussichten glänzend sein.«
Ich hielt zwar dagegen und brachte irgendwelche Einwände vor, aber ich hatte das gleiche Gefühl wie mein Vater.
Wenn wir gewöhnlichen Leute, wir einfachen Bauern, die keinem besonderen Geschäft nachgehen, uns einbilden, wir könnten uns mit einem Drachen oder Phönix verbinden, und das dann tatsächlich tun, kann man uns das ja wohl nachsehen.
Deshalb war ich, als mich meine Tante erneut aufsuchte, nicht mehr so stur.
Als sie mir wie früher schon einmal empfahl, Shizi zur Frau zu nehmen, begannen die Mauern in meinem Herzen zu bröckeln. Trotzdem tischte ich natürlich die Geschichte von Wang Leber und seiner inzwischen mehr als zehn Jahre währenden Liebestollheit auf.
Meine Tante sagte aber: »Ich habe keine Kinder, Renner. Für mich ist Kleiner Löwe wie eine leibliche Tochter. Sie hat einen ordentlichen Charakter, ein gutes Herz, ist mir unendlich treu. Ich würde sie doch nicht Wang Leber zur Frau geben.«
»Tante, es ist dir bestimmt nicht verborgen geblieben, dass er ihr, seit er 1970 den ersten Brief an sie abschickte, nun bereits zwölf Jahre lang immer wieder schreibt. Insgesamt an die sechshundert Mal, das hat er mir selbst gesagt. Um ihr seine Liebe zu beweisen, hat er sogar seine eigene Schwester verraten. Natürlich hat er auch Yuan Backe verraten und Wang Renmei. Woher sonst willst du gewusst haben, dass Backe den Frauen heimlich die Spirale herausgenommen hat? Woher sonst, dass Renmei und Galle eine ›unverhoffte Schwangerschaft‹ geplant haben?«
»Jetzt sage ich dir mal was, kleiner Renner: Kleiner Löwe hat keinen dieser peinlichen Briefe zu Gesicht bekommen. Ich habe sie alle abgefangen. Ma, dem Leiter der Poststelle, habe ich die Anweisung gegeben, alle Briefe dieses Absenders nur mir persönlich auszuhändigen.«
»Für eure Arbeit war euch Wang Leber gut genug. Er hat maßgeblich zu eurem Erfolg beigetragen. Es begann mit der Zwangssterilisation seines Vaters. Schon damals hat er euch unterstützt. Er hat euch für die gerechten Ziele der Politik sogar seine Familie ans Messer geliefert. Selbst seine leibliche Schwester hat er verpfiffen.«
»Jemanden, der wegen einer Frau seine Freunde, sogar die eigene kleine Schwester verrät, kann man erst recht nicht heiraten!« Meine Tante geriet in Wut: »Glaubst du, so einer bleibt treu?«
»Er hat euch doch aber geholfen!«
»Die zwei Mal, Renner. Merk dir, du kannst alles machen, aber«, Gugus Stimme nahm einen beschwörend dunklen Ton an, »sei kein Verräter! Niemals, egal, welche edlen Gründe dich dazu bewegen mögen. Werde nie zum Verräter! Heute wie gestern, ob in China oder im Ausland. Mit einem Verräter nimmt es ein erbärmliches Ende. – Genauso Wang Xiaoti! Auch wenn er diese Prämie von fünftausend Unzen Gold eingesteckt hat – ich wette, der wird zur Hölle fahren! Da flieht einer heute wegen einer Prämie von fünftausend Unzen Gold in die Arme der Kuomintang und anderntags kommt die nächste Partei, die ihm zwanzigtausend bietet. Wird er dann wieder alle verraten? Je mehr Informationen Leber uns zuschiebt, desto mehr verachte ich ihn. Er ist in meinen Augen nur ein Haufen Scheiße.«
»Tante, was wäre passiert, wenn du seine Briefe nicht abgefangen hättest? Hätte er Shizis Herz womöglich gerührt? Wäre sie womöglich längst mit ihm verheiratet?«
»Unmöglich! Absolut unmöglich! Kleiner Löwe steht über solchen Dingen. Sie ist hoch ambitioniert. Wang Leber ist nicht der einzige gewesen, der sich in sie verliebt hat. Es waren mehr als ein Dutzend. Kader, Arbeiter, keiner war ihr gut genug.«
Ich wiegte zweifelnd den Kopf: »Nun ja, sie sieht gar nicht besonders schön ...«
»Pfui Teufel!«, kam es sofort von Gugu, »was hast denn du für einen Geschmack? So vielen Frauen begegne ich, die auf den ersten Blick wunderhübsch aussehen. Und wenn du einmal ein bisschen genauer hinschaust, dann ist da alles im Argen. Kleiner Löwe dagegen? Auf den ersten Blick ist sie vielleicht nicht besonders schön, aber je länger man sie betrachtet, umso schöner erscheint sie. Du hast sie dir bisher wohl nicht genau angesehen? Ich sage dir, mein Sohn: Ich habe jeden Tag mit allen möglichen Frauen zu tun. Ich weiß, welche die wirklich kostbaren, schönen sind. Du erinnerst dich doch noch? Als du zum Kader befördert wurdest, habe ich sie dir zum ersten Mal angetragen. Aber du warst mit Wang Renmei zusammen. In mir sträubte sich alles dagegen. Aber in der neuen chinesischen Gesellschaft existiert ja das Recht auf freie Wahl des Ehepartners, auf eine Liebesheirat. Da kam ich als Tante natürlich nicht umhin, brav ein paar glückverheißende Sätze zu sagen. Nun hat Wang Renmei den Platz frei gemacht – natürlich wollte ich nicht, dass sie stirbt. Ich habe ihr gewünscht, dass sie steinalt wird, dass sie immer gesund bleibt – es war der Wille des Himmels. Die Vorsehung hat es so bestimmt. Deines und Xiao Shizis Schicksal ist es, für die jetzt kommende Zeitspanne ein Ehepaar zu werden.«