Der falsche Sancho Panza brachte mir ein Glas Eiswasser und einige Scheiben Brot, dazu ein Stück Butter und ein Tellerchen mit Olivenöl und Knoblauch als Dip für das Brot. Hier wird hervorragendes Brot gebacken. Jeder, der schon mal westliches Brot gegessen hat, wird mir zustimmen. Wenn man das Brot in den Dip oder die Butter stippt, ist es Genuss pur. Und dann erst die Gerichte, die anschließend serviert werden!
Sugitani san, Sie müssen hier einmal essen gehen! Ich garantiere Ihnen, dass Sie es genießen werden.
Außerdem gibt es in diesem Restaurant noch einen »Brauch«. Vielleicht ist »Regel« sogar das bessere Wort: Wenn der Wirt abends sein Lokal schließt, stellt er das Brot vom selben Tag – Baguettes, Brötchen, Roggenbrote, grobkörnige und Feinbrote – in einen großen Weidenkorb auf den Tisch an der Tür, damit die Gäste es nach Hause mitnehmen. Es gibt kein Hinweisschild, das dazu ermahnt, nur eins mitzunehmen, aber jeder Gast hält sich unwillkürlich daran. Da geht man dann: ein Baguette unter den Arm geklemmt oder vor der Brust, ein Kastenbrot, ein weiches Weißbrot oder ein knuspriges, man atmet den Duft ein, den Duft des Roggenkorns, des Weizens, der Sesamsaat, der Aprikosenkerne, den Hefeduft. Auch ich mache mich meist mit einem frischen Brot auf den Heimweg und bummele noch über den Vorplatz des Niangniang-Tempels.
Ich bin jedes Mal beschämt, denn ich weiß natürlich, dass ich den Luxus liebe. Ich bin mir bewusst, dass auf unserem Erdball ungezählte Menschen nicht einmal ein Hemd auf dem Leib besitzen, sich nicht sattessen können, dass es viele gibt, die vom Hungertod bedroht sind und gerade jetzt in dieser Minute um ihr Leben ringen.
Fräulein Margaritas gemischter Salat besteht aus grünem Salat, Tomaten und jungen Blättchen der Ackergänsedistel. Er schmeckt köstlich. Wer hat sich diesen westeuropäischen Namen, bei dem man unwillkürlich ins Träumen von Europa gerät, für den Salat ausgedacht? Natürlich mein Schulkamerad aus der Grundschule, der Sohn meiner Grundschullehrerin, Li Hand.
Wie ich Ihnen schon in meinen früheren Briefen erzählte, war Hand der Begabteste von uns. Eigentlich wäre er für die Schriftstellerei prädestiniert gewesen, doch schließlich bin ich dazu gekommen. Er hingegen wurde Arzt, ein sehr guter Arzt. Er hatte glänzende Zukunftsaussichten, kündigte aber, kehrte aufs Land zurück und machte dieses nicht westliche und nicht östliche, sagen wir, eurasische Restaurant auf. Schon dessen Name und auch die angebotenen Gerichte verraten, dass die Literatur einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf meinen Mitschüler hat. An so einem Ort wie unserem Dorf, wo Einheimisches bis zur Unkenntlichkeit mit Ausländischem vermengt wird, ist ein Restaurant »Don Quijote de la Mancha« an sich schon eine Tat, die dem Namensgeber alle Ehre macht.
Li Hand hatte bereits einen Wohlstandsbauch angesetzt. Er, der immer schon untersetzt gewesen war, sah mit dem Bauch noch kleiner aus. Für gewöhnlich saß er in seinem Lokal abgeschieden in einer Ecke, in einiger Entfernung, aber mir gegenüber, so dass er mich sehen konnte.
Wir begrüßten uns gegenseitig nicht. Manchmal schrieb ich tief über den Tisch gebeugt irgendwelche unzusammenhängenden Impressionen, und er stand dabei, hinter dem Stuhl, den rechten Ellbogen auf die Lehne gestützt und die Wange in die Hand geschmiegt. In dieser Pose eines Müßiggängers verharrte er stets eine ganze Weile.
Der falsche Sancho Panza servierte mir meine Portion Rinderschmorfleisch im Tontopf à la Antonios junge Witwe und mein gezapftes Onkel-Marek-Starkbier. Ich hatte alles, was ich bestellt hatte, nahm einen Schluck Bier und aß einen Bissen von dem Rinderschmorfleisch. Ich kaute langsam und ließ es mir auf der Zunge zergehen.
Mein Blick fiel durch das Fenster. Ich sah, dass dort im helllichten Sonnenschein feierlich eine Göttergeschichte aufgeführt wurde. Die Musiker und Opernsänger spielten und sangen, dass die Erde bebte, und bahnten sich einen Weg durch das Menschengewühl. Dem Orchester folgte der Zug mit den Bannern, den Becken, den Baldachinschirmen, den Fächern, den Halbgöttern in fünffarbiger Kleidung. Die Schöne, die auf dem Fabelwesen Qilin ritt, hatte ein Gesicht, makellos wie ein Silberteller, und Augen wie zwei Sterne, in den Armen hielt sie einen molligen, rosig samtigen Säugling.
Jedes Mal, wenn ich die Babys bringende Niangniang sehe, möchte ich ihr Bild so gern mit dem von Gugu verknüpfen. Aber meine Tante kommt mir jetzt nur noch mit großem schwarzen Poncho in den Sinn, mit wirrem Haar, einem Lachen wie das Kreischen einer Eule, einem verschwommenen Blick und Worten, die alles ins Gegenteil verkehren. Dies zerstört meinen schönen Traum.
Nachdem die Ehrengarde der Kinder schenkenden Niangniang die Göttin im federnden Laufschritt eine Runde um den Tempelvorplatz begleitet hatte, stellten sich alle in der Mitte zu einer Formation auf. Die Musik und die Trommeln verstummten. Ein Würdenträger mit hoch aufragender Beamtenkappe, in einer zinnoberroten Amtsrobe, das Hu-Zepter der Beamten vor der Brust, ein Amtsschreiben in der Hand – man dachte unwillkürlich an den Eunuchen aus dem Computerspiel »Herrscher« –, verkündete mit lauter Stimme:
»Himmel und Erde bringen immerfort die fünf Getreidearten hervor. Sonne, Mond und Sterne nähren und mehren das Volk. Auf Geheiß des Jadekaisers bringt die Kinder schenkende Niangniang ein hübsches Kind zu euch auf die Erde nach Nordost-Gaomi herab. Sie hat angeordnet, dass es für Wang Liang, der reichlich gute Werke tut, und seine brave Gattin bestimmt ist, die jetzt vortreten und ihr Kind in Empfang nehmen sollen.«
Die sehnsüchtig auf ihre Schwangerschaft wartende Ehefrau nahm das hübsche Kind – es war ein Niwawa-Tonkind – entgegen.
Sugitani san, obwohl ich alle möglichen Mittel und Wege suchte, mich selbst zu beschwichtigen, blieb ich der Angsthase, der sich immerfort Sorgen macht.
Da ich mir inzwischen sicher war, dass Chen Augenbraue mein Kind austrug, konnte ich mich innerlich nicht beruhigen und fühlte mich in jeder Minute, jeder Sekunde wie ein Schwerverbrecher. Sie war doch Nases Tochter! Gugu und Kleiner Löwe hatten sie aufgezogen! Ich hatte ihr sogar mit meinem kleinen Finger, den ich ihr ins Mündchen schob, Milchpulver gefüttert. Sie war noch winziger gewesen als meine eigene Tochter!
Wenn Nase, Hand und Leber erführen, was sich nun zugetragen hatte? Ich könnte einpacken! Wir aus Gaomi sagen, ich könnte genauso gut in ein Hundefell kriechen. Denn niemals mehr könnte ich irgendjemandem unter die Augen treten. Ich hätte mein Gesicht für alle Zeit verloren.
Mir fielen die beiden Male ein, die ich Nase gesehen hatte, seitdem ich wieder nach Hause gezogen war.
Das erste Mal war im letzten Jahr eines frühen Abends gewesen, als es in dicken Flocken geschneit hatte. Kleiner Löwe hatte noch nicht begonnen, auf der Froschzuchtfarm zu arbeiten. Ich ging draußen mit ihr spazieren, und wir schauten den im hellen Licht tanzenden Schneeflocken am Rande des Tempelvorplatzes zu. Von weitem hörte man immer wieder Böller krachen. Der brenzlige Geruch wurde langsam stärker. Man konnte das neue Jahr schon riechen! Als mich meine Tochter aus Spanien auf dem Handy anrief und erzählte, sie sei mit ihrem Mann in Cervantes’ Geburtsort Alcalá, betrat ich gerade mit Kleiner Löwe an der Hand mein Lieblingsrestaurant »Don Quijote de la Mancha«. Das erzählte ich meiner Tochter, und ich hörte sie durch den Äther fröhlich lachen.
»Wie ist die Welt doch klein, Papa!«
Und die Kultur groß, finden Sie nicht auch, Sugitani san?
Anfangs wusste ich gar nicht, dass es sich bei dem Wirt des Restaurants um meinen alten Schulfreund Li Hand handelte, doch ich ahnte, dass er ein außergewöhnlicher Charakter war. Schon als wir das Lokal zum ersten Mal betraten, gefiel es uns auf Anhieb. Mir hatten es vor allem die massiven Tische und Stühle aus gebürsteter Linde angetan. Wären die Tischplatten mit blendend weiß gewaschenen Tischtüchern bedeckt gewesen, hätte es im Lokal sehr europäisch ausgesehen, aber Li Hand erklärte mir später: »In der Epoche des Don Quijote de la Mancha, das habe ich genau geprüft, hat man in den spanischen Gasthöfen auf dem Land keine Tischtücher benutzt. Genauso wenig«, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen, »wie die spanischen Frauen damals Büstenhalter getragen haben.«