»Ja«, gab John Woodward zu, »das stimmt. Sie sind eben für Anstand und Sitte, nicht wie Dawson. Er hat keine moralischen Grundsätze.«
»Das wohl doch.«
»Es gibt Dinge, die man tun kann, und solche, die man nicht tun kann«, sagte Carrie Woodward. »Läuft nicht geistige Gesundheit darauf hinaus, daß man weiß, was recht und was unrecht ist?«
»Nein.« Alice saß ihnen an der anderen Wand gegenüber, so weit entfernt, daß die anderen sie fast vergessen hatten. »Sonst wäre ich nicht in Menningers Sanatorium gewesen.«
»Weshalb warst du dann da?«
»Das geht euch gar nichts an. Ich hatte immerzu Angst.«
»Wovor?« wollte Carrie Woodward wissen.
Alice sah beiseite.
Dawson blickte zu ihnen herüber. Die Woodwards mieden seinen Blick. Carrie sprach weiter mit Jeri, als sei Dawson Luft.
»Sag jetzt bloß nicht, daß du nie besser sein wolltest, als du bist«, sagte sie. »Jeder möchte das. Das bedeutet Menschsein doch letzten Endes.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Jeri. »Wir tun nicht, was wir für richtig halten, wohl aber Dinge, für die wir uns schämen – steht so was nicht auch irgendwo in der Bibel? Eigentlich haben die Menschen aber immer nur tun wollen, was richtig war.«
»Nur weiß niemand so recht, was richtig und was falsch ist«, wandte Dawson ein.
»Natürlich weiß man das«, hielt Jeri ihm entgegen. »Die meisten wissen das sogar sehr genau, zumindest normalerweise. Das Problem liegt darin, daß niemand es tut. Darin unterscheiden wir Menschen uns von den Steinen. Die haben keine Wahl; sie sind den Naturgesetzen unterworfen und tun, was sie müssen. Wir hingegen haben einen freien Willen.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Arwid. »Wir würden es aber nicht Gesetze nennen, sondern…«
»Moralische Prinzipien«, ergänzte Dmitri mit fester Stimme, »die der wissenschaftliche Marxismus festgelegt hat.«
»Kommunisten kennen doch keine Moral!« protestierte Carrie Woodward.
»Das ist nicht wahr«, sagte Arwid. »Eure und unsere Ansichten weichen nicht sonderlich voneinander ab. Aber euer Anführer da, euer Kongreßmensch, sieht alles anders.«
Carrie sah ihren Mann an. Sie schwiegen.
Eine Stunde später wurden sie wieder in den Vorführraum beordert. Diesmal standen die Fithp streng hierarchisch gegliedert. Oberhalb der paarweise auf den Stufen Versammelten stand der Herr der Herde mit seiner Gefährtin. Tashajämp, die in seiner Nähe stand, gebot mit einem Trompeten Stillschweigen.
Der Herr der Herde sprach lange.
Schließlich übersetzte Tashajämp. »Ihr seid ein Geschlecht von Einzelgängern. Ihr sagt, ihr wollt nach euren Gesetzen leben, tut es aber nicht. Ihr sagt, ihr habt stets nach euren Regeln leben wollen, tut es aber nicht. Ab sofort werdet ihr das tun. Ihr werdet ein Teil der Ziehenden Herde und werdet leben wie die Fithp, aber nach euren eigenen Vorschriften. Wir sorgen dafür, daß ihr sie einhaltet. Ihr werdet uns eure Gesetze lehren und nach ihnen leben. Jetzt könnt ihr gehen!«
27. Der Sitzkrieg
»Wir wollen stets daran denken«, hatte Lord Tweedsmuir während des Krieges mit volltönender Stimme zu seiner Zuhörerschaft gesagt, »daß wir in diesem Kampf Gottes Ritter sind.« Die Briten, weit davon entfernt, sich als Gottes Ritter zu sehen, begannen gegenüber dem langweiligen Sitzkrieg eine solche Distanz an den Tag zu legen, daß sich die Regierung allmählich ernsthafte Sorgen machte.
Hoch hingen Schäfchenwolken über dem San FernandoTal. Die Temperatur näherte sich vierzig Grad Celsius, ein heißer Wind im Tal versengte jegliche Vegetation, die nicht vor ihm geschützt war.
Sorgfältig schloß Ken Dutton die Tür zu seinem Gewächshaus. Drinnen begoß er aus einem Eimer die üppig wachsenden Pflanzen. Dann eilte er hinaus, um die Kurbel des behelfsmäßigen Ventilators zu drehen, damit frische, heiße, trockene Luft durch das Gewächshaus strich.
Anschließend kehrte er ins Haus zurück. Es hatte dicke Mauern und kühlte nachts rasch aus, so daß man es tagsüber darin aushalten konnte. Er nahm den Hörer ab – ein Wählton. Den Auflistungen seines TelefonnummernVerzeichnisses folgend führte er Gespräch auf Gespräch.
»Ich koche«, sagte er zu Cora Donaldson, »aber ich kann Hilfe brauchen. Könntest du gegen Mittag herkommen? Bring alles mit, was du an Eßbarem auftreiben kannst und sag mir am besten jetzt gleich, womit ich rechnen kann!«
»Reis.«
Er notierte. »Wieviel?«
»Eine Menge. Ich meine wirklich eine Menge.« Sie kicherte. »Das einzig Gute an diesem Krieg ist, daß ich abnehme, weil mir der Reis schon zu den Ohren herauswächst – ich sehe inzwischen gut aus. Mein neues Ich wird dir gefallen.«
»Prima. Bis dann!« Er wählte erneut.
»Im ganzen Lande gibt es kein Rindfleisch«, beklagte sich Sarge Harris. »Viehwaggons sind zu groß, die Rüßler jagen sie in die Luft, weil sie glauben, daß Panzer oder Waffen drin sind.«
»Ja. Sogar Hühnerfleisch kostet ein Vermögen. Was kannst du mitbringen?«
»Eier. Ich habe sie als Bezahlung für eine Tischlerarbeit bekommen.«
»Gut. Bring sie mit!« Ken beendete das Gespräch und wählte eine weitere Nummer.
Patsy Clevenger gehörte ebenfalls zu den Glücklichen. Als begeisterte Rucksackwanderin hatte sie zwar größere Mengen gefriergetrockneter Nahrungsmittel in luftdicht verschlossenen Beuteln gelagert. Da die eintönige Ernährung sie aber zum Wahnsinn trieb, war sie selig über Kens Angebot. Natürlich würde sie einen gefriergetrockneten Nachtisch mitnehmen, außerdem löslichen Kaffee und Trockenmilch. Sie würde auch Anthony Graves abholen, der siebzig Jahre alt war und nicht mehr selbst fahren konnte. Ken nahm den Hörer ans andere Ohr.
Die Copeleys wohnten am Nordende des San FernandoTals. Sie sagten zu, frischen Mais, Tomaten, Mandeln und Apfelsinen zu besorgen.
Er probierte es auch bei Marty Carnell. Man konnte nie wissen. Die von Kratern aufgerissenen Fernstraßen hatten vermutlich seine Rückkehr von irgendeiner Hundeausstellung verhindert.
Doch Marty meldete sich.
»Ich hab das schon mal gemacht, und es hat funktioniert«, sagte Ken zu ihm. »Zwar nagt kaum jemand wirklich am Hungertuch, so schlecht steht es noch nicht. Aber jeder hat ein paar Zentner von dem und jenem und von allem anderen nichts, und deswegen muß man sie alle mit ihren Vorräten zusammenbringen und ein Fest veranstalten.«
»Klingt gut.«
»Also schön, dann komm morgen gegen Mittag her!«
»Fürs Abendessen?«
»Steinzeitsuppe dauert, und ich brauch Sonnenlicht für den Spiegel. Bring Hunger mit! Hast du Fleisch?«
»Es reicht, um die Hunde zu füttern, bis mir das Geld ausgeht, aber es ist TrabTrab, Ken – Pferdefleisch. Ich lebe selbst auch davon.«
»Bring es ruhig mit! Fünf Pfund? Vier tun’s auch. Bis es auf den Tisch kommt, erkennst du es nicht wieder, Marty. Ich hab ein phantastisches Rezept chili con carne. Die schwere Menge Gemüse.«
Die Offutts würden mit dem Fahrrad kommen müssen. Chad Offutts’ Stimme klang, als sterbe er jetzt schon vor Hunger. Wie sollten sie auch ohne Verkehrsmittel an etwas zu essen kommen? Und ein paar Flaschen Schnaps in den Satteltaschen? Ken akzeptierte. Schnaps hatte fast jeder – gebraucht wurden Lebensmittel.
Ken legte auf.
Er überraschte sich dabei, wie er summte, während er riesige Töpfe in den Hinterhof hinausschleppte und sie um den Sonnenspiegel herum anordnete. Es schien fast unanständig, sich zu freuen, wo doch die Zivilisation um sie herum zum Teufel ging. Aber es war ein schönes Gefühl, endlich seine Steckenpferde sinnvoll nutzen zu können!