»Vielen Dank. Wir fahren wohl besser hin. Ob ich wohl irgendwo Sprit kriegen kann?«
Der Beamte lachte sarkastisch.
Die Brieftasche enthielt zwei Fotos von Jeri und eins von Melissa. Jeri sah darauf, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
Meine Bilder. Bestimmt hätte er mich gern gesehen. Der Führerschein war durchweicht, aber der Name war lesbar. »Das ist seiner«, sagte Jeri.
Der junge Mann mit dem schütteren Bartwuchs und dem schmutzigen weißen Kittel machte sich Notizen. »David J. Wilson aus Reseda, Kalifornien«, sagte er. »Nächster Verwandter Mrs. Geraldine Wilson…«
Es dauerte endlos. Er nahm Davids Brieftasche und notierte genauestens ihren Inhalt. Dann gab er Jeri einen Schuhkarton mit der Brieftasche, Davids Armbanduhr und Trauring. »Bitte unterschreiben Sie hier.«
Sie trat mit dem Schuhkarton hinaus ins helle Sonnenlicht, das über dem Staat Colorado lag. Mein Gott, was soll ich jetzt nur anfangen? Von Harry oder Melissa war nichts zu sehen. Sie setzte sich auf eine Bank neben der Schule.
Was wollen sie von uns? Warum tun sie das nur?
»Mutti…«
Jeri mochte ihre Tochter nicht ansehen.
»Harry hat es mir gesagt.« Melissa setzte sich neben sie. Nach einem Augenblick nahm Jeri sie in den Arm und sie hielten einander weinend umschlungen.
»Wir müssen weg«, sagte Melissa.
»Und wohin?«
»Nach Dighton in Kansas«, ertönte Harrys Stimme hinter ihrem Rücken, »und zwar sofort. Wir müssen über den Fluß, und es gibt mindestens bis Dodge City keine einzige Brücke. Also müssen wir flußaufwärts bis zum Ende des Staubeckens fahren – ein Umweg von etwa dreihundert Kilometern. Wir müssen jetzt sofort los.«
Jeri schüttelte den Kopf. »Was soll ich in Kansas? Ich kenne dort niemanden.«
»Ich auch nicht, außer Mrs. Dawson«, teilte ihr Harry ungerührt mit. Es war leicht zu erraten, was er dachte. Er hatte keine Frau…
»Harry, du kannst uns doch gar nicht brauchen auf deiner Maschine.«
»Stimmt«, sagte er, »aber was hat das damit zu tun?«
Melissa stand auf und zog an ihrer Hand. »Komm, Mutti, hier wollen wir nicht bleiben.«
Ich könnte Bekannte von David suchen und sehen, wo er seine letzten Monate verbracht hat.
Das ist morbid, wahrscheinlich triffst du am ehesten sein neues Schätzchen. War sie vielleicht sogar bei ihm? Hat die Erde deinetwegen gebebt, Liebling? »Also los, Harry! Ich dachte, du hättest kein Benzin mehr.«
»Er hat mit seinem Brief dem Polizisten eine Tankfüllung abgeschwatzt«, erklärte Melissa.
»Damit müßten wir es schaffen«, sagte Harry. Er führte sie um die Ecke. Sein Motorrad sah nicht mehr besonders gut aus und wirkte schon überladen, wenn niemand darauf saß.
»Auch zu dritt?«
»Ich denke schon.« Harry schwang sich mühsam in den Sattel. Er sah jetzt etwas erholter aus, sein Gesicht war nicht mehr so rot und sein Rücken nicht mehr so krumm wie zuvor. »Möchtest du vorher noch irgendwohin?« fragte er.
Jeri schüttelte den Kopf und nahm Melissas Hand. »Sie… haben über hundert in einem Massengrab beigesetzt. Das will ich nicht sehen.«
»Ich auch nicht, Mutti.« Melissa setzte sich vor Harry auf den Tank.
Die jungen Leute sind so verdammt – robust. Aber das muß wohl so sein. Vor allem jetzt. Jeri verstaute den Schuhkarton in der Satteltasche und stieg hinter Harry auf den Soziussitz. »Ich bin soweit.«
Als sie aus der Stadt fuhren, sah sie sich nicht um.
15. Die Weizenfelder
Wenn endlich selbst Liebende Frieden finden und die Erde nichts ist als ein Stern, der einstens schien.
Sie hatten die letzten Vorberge hinter sich und fuhren durch die sanft geschwungene Weidelandschaft von Kansas, einem Land, dessen schnurgerade Straßen kleine Landstädtchen verbanden. Weizen- und Maisfelder gaben der Landschaft ihr eintöniges Gepräge. Kaum hielten sie einmal an, trieben der heiße Wind und die grelle Sonne sie zum Weiterfahren.
Eine Unterhaltung war bei dem Lärm, den das Motorrad machte, unmöglich. Harry unterdrückte den Schmerz in seinem Rücken und versuchte, nicht an die Krämpfe in seinen Beinen zu denken. Phantasievorstellungen halfen ihm dabei.
Jeri ist eine hübsche junge Frau, und sie ist ganz allein. Hat keine Ahnung, was sie in Kansas will. Vielleicht gab es nicht genug Zimmer, und sie mußten sich eins teilen, im selben Bett schlafen. In der ersten Nacht würde er sie einfach nur halten, und dann…
Insgeheim wußte er es besser, aber diese Vorstellungen waren immerhin angenehmer als die Rückenschmerzen.
Bis Dighton waren es noch gut sechzig Kilometer. Der Motor stotterte, und Harry schaltete auf Reserve. Sie würden es gerade schaffen, mit vielleicht noch Kraftstoff für fünfzehn Kilometer im Tank. Das muß und wird reichen, dachte Harry.
Sechs Kilometer vor Logan, einem völlig unbedeutenden Kleinstädtchen, blitzte es links vor ihnen hell auf. »Mist, verdammter!« schrie Harry und bremste so scharf ab, daß die Maschine mit quietschenden Reifen zum Halten kam. »Runter, runter und flachlegen!«
Jeri und Melissa warfen sich in den Straßengraben. Harry ließ die Maschine zu Boden gleiten. Er hatte unbewußt die Sekunden mitgezählt. Es dauerte nahezu eine Minute, bis der Donner über sie hinwegrollte. Die Druckwelle blieb aus.
»Fünfzehn bis zwanzig Kilometer von hier«, sagte Harry.
»Beim erstenmal waren wir näher«, sagte Melissa. Sie versuchte tapfer und gelassen dreinzusehen, aber es fiel ihr schwer zu vergessen, daß sie mit ihren zehn Jahren ihr ganzes Leben lang beschützt und behütet worden war.
Neuerliches Grummeln ertönte, es knallte, als würden Flugzeuge die Schallmauer durchbrechen, und ein mächtiges Getöse entstand am Himmel.
»Was, zum Kuckuck, gibt es denn hier zu bombardieren?« fragte Harry.
Jeri setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht… Harry!« Sie wies nach oben. Etwas Pfeilförmiges durchquerte in großer Höhe den Himmel, es glühte an der Spitze orangefarben und hinterließ einen wellenförmigen Kondensstreifen. »Was ist das?«
Harry schüttelte den Kopf. Der Kondensstreifen löste sich langsam in Schnörkeln und Windungen auf. Der Einfluß der Winde in der Stratosphäre. »Ein russisches Flugzeug? Es sieht nicht aus wie irgendein amerikanisches, das ich kenne.« Sie sahen einander erstaunt an. »Nee«, sagte Harry, »unmöglich. Vielleicht Raumgleiter?«
Die Maschine war nicht mehr zu sehen… dann setzte wieder das Blinken ein, blitzten die grellen blauen Lichtpünktchen auf, so wie in der ersten Nacht.
Staubkörnchen lösten sich aus dem Kondensstreifen.
Eine weitere Maschine überquerte den hellerleuchteten Himmel, dann noch eine, in schräg zueinander verlaufenden Bahnen. Auch hier lösten sich Staubkörnchen aus den Kondensstreifen. Die ersten Staubkörnchen wurden größer. Harry stand knietief im Grabenwasser und starrte nach oben. Eine vierte… und jetzt pulsierten die beiden ersten, entschwanden schließlich.
Sie mußten viel größer sein, als sie wirkten. Sie waren mindestens fünfzig Kilometer hoch oder noch höher: sie mußten so hoch sein, wenn man bedachte, was sie taten. Sie rasten mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Stratosphäre und warfen ganze Wolken von… Pünktchen ab, die frei zur Erde fielen. Pünktchen?