Henry nickte. »Meine Eltern glauben, dass ich bei einem Schulfreund übernachte, aber ich nehme den Nachtzug in Richtung schottische Grenze. Man kann eine Fahrkarte für einen Hund kaufen. Ich habe Geld. Meine Großeltern leben an der Küste. Sie werden uns aufnehmen, das weiß ich.«
»Gut, das klingt vernünftig. Aber ich warne dich, du musst Fleck erst einmal tragen.«
Henry wurde blass. »Ist er verletzt?«
»Das nicht, aber der reizende Mr Carker hat ihm eine Spritze verpassen lassen, damit er Ruhe gibt. Komm, wir müssen uns beeilen. Ich habe sein Tuch, das nimmst du besser. Gott sei Dank ist meine Schwester nicht hier. Sie gehört zu denen, die niemals etwas Verbotenes tun würden.«
»So war ich auch mal«, sagte Henry.
Er folgte ihr in Raum A und beugte sich über Flecks Käfig. Henry hatte nur Augen für ihn, aber die anderen Hunde stellten sich auf die Hinterbeine, zuerst zitternd vor Neugier und Aufregung … dann vor Verzweiflung.
Denn sie wussten, was geschehen würde. Flecks Geschichte würde ein Happy End haben. Sein Herrchen war zurückgekommen, um ihn hier herauszuholen. Fleck würde frei sein.
Otto war frei von Neid wie jeder Hund, aber sein ganzer Körper vibrierte vor Sehnsucht. Francine presste ihre Schnauze gegen die Gitterstäbe und ihre dunklen Augen waren voll Kummer. Der Pekinese grunzte vor Enttäuschung.
Henry, der seinen schlafenden Hund aus dem Käfig hob, bemerkte nichts davon. Dafür aber Pippa. Sie war mit diesen Hunden aufgewachsen und sie kannte sie mindestens so gut wie ihre eigenen Brüder.
»Sag mir Bescheid, wenn du angekommen bist.« Sie kritzelte ihren Namen und ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier und Henry steckte es sich in die Hosentasche. »Danke«, sagte er. »Das vergesse ich dir nie.«
Nachdem Henry und Fleck fort waren, wurde es sehr still im ganzen Gebäude. Höchste Zeit, die Hunde für die Nacht in das Freigehege zu lassen und die Alarmanlage einzuschalten, dachte Pippa. Und höchste Zeit, nach Hause zu gehen.
Doch Pippa rührte sich nicht von der Stelle. Sie schaute Otto an, der immer noch sehnsüchtig bebte, sah die Furcht in den Augen des Collies …
Sie war der Gefängniswärter dieser armen Kreaturen!
Henry, den sie für reich und verweichlicht gehalten hatte, hatte seinen Hund befreit, und was tat sie? Sie verurteilte die Hunde zur Gefangenschaft, dazu, wie Spielzeug herumzusitzen, Tag für Tag, bis jemand kam, der sie für kurze Zeit mitnahm.
Die Hunde erwarteten nichts. Sie schauten Pippa nur an.
Dann stieß Otto einen leisen Klagelaut aus – und plötzlich sah Pippa rot. Sie ging zu den Käfigen und schloss die Türen auf. Dann öffnete sie die Tür zu Kayleys Büro und schließlich die, die auf die Straße führte.
»Ihr seid frei«, sagte sie zu den Hunden.
Und die Hunde verstanden sie. Otto blieb einen Moment stehen, um ihr die Hand zu lecken. Honey rieb ihren Kopf an Pippas Rock, als ob sie Danke sagen wollte.
Und dann waren sie fort.
Nur Queen Tilly war in ihrem Käfig geblieben, obwohl die Tür aufstand. Kurze Zeit später begann sie sich zu beklagen, weil ihre Wärmflasche kalt war. Aber es war niemand da, der sie hören konnte.
Weit und breit niemand.
10. Kapitel
Da waren's plötzlich fünf
Henrys Arme waren lahm geworden, er hatte nicht damit gerechnet, seinen Hund bis zum Bahnhof King’s Cross tragen zu müssen. Er hatte einen Stadtplan gekauft und sich die Strecke von Rent-a-Dog bis zum Bahnhof genau eingeprägt. Eigentlich hätte es zu Fuß nicht länger als eine Stunde dauern dürfen, aber da war er noch davon ausgegangen, dass Fleck neben ihm herlaufen würde.
Zuerst hatte der Hund nur leblos in Henrys Armen gelegen, doch nun fing er an sich zu rühren. Sein Hinterbein zuckte einmal und noch einmal, Henry bog in einen kleinen Park ein und setzte sich auf den Rand eines Brunnens. Es dämmerte bereits und die Besucher machten sich auf den Weg nach Hause, bald schon würden auf der Straße die Laternen angehen.
Die Panik, die Henry beim Anblick des wie tot daliegenden Hundes überfallen hatte, war verflogen. Pippa hatte ihm versichert, dass Fleck sich wieder erholen würde, und das Mädchen schien sich gut mit Hunden auszukennen.
Henry nahm Fleck auf den Schoß und streichelte langsam, aber beständig über seinen Rücken.
»Bitte, wach auf«, flehte er den Hund an. »Bitte!«
Und es funktionierte. Die Wirkung der Spritze ließ nach, Fleck drehte sich um und öffnete seine Augen … dann sah er Henry an. Schaute mit seinen ungleichen Augen, dem dunklen rechten und dem goldgefleckten linken, schaute und versuchte zu begreifen, was er da sah. Er stieß ein leises Winseln aus und noch eins. Um mit dem Schwanz zu wedeln, war er noch zu schwach, doch als er begriff, dass es kein Traum war, dass er wirklich da war, wo er sein wollte, da fing er an, hingebungsvoll Henrys Handgelenk zu lecken. Genau und gründlich.
Das Gleiche machte er mit dem anderen Handgelenk. Nicht ein Stückchen Haut ließ er aus, erst als er sicher sein konnte, dass alles sauber war, bewegte er seinen Schwanz hin und her, zuerst langsam, dann schneller und immer schneller, und aus seiner Kehle stieg begeistertes Bellen.
Und die ganze Zeit hielt Henry ihn fest und sagte, dass er ihn niemals verlassen würde. Niemals.
»Ich schwöre es, Fleck«, sagte Henry zu seinem Hund. »Niemand kann uns trennen, hörst du?«
Fleck hörte ihn, er seufzte zufrieden und legte seinen Kopf an Henrys Brust und schlief beruhigt wieder ein.
Nachdem Pippa sie freigelassen hatte, liefen die vier Hunde erst einmal los. Sie rannten die Straße hinunter, die von Rent-a-Dog wegführte, spürten die Kraft in ihren Flanken und den Wind in ihrem Fell. Obwohl Li-Chee so viel kleiner war als die anderen, schaffte er es, mit seinen krummen Beinchen Schritt zu halten.
Sie waren frei! Niemand zerrte an ihren Leinen, schrie ihnen Befehle zu, riss sie fort von dem, was sie gerade sehen oder riechen oder fressen wollten. Wie oft hatten sie davon geträumt, so laufen zu können. Ihre Glieder hatten im Schlaf gezuckt und dann waren sie aufgewacht, nur um sich im Käfig wiederzufinden.
Nachdem sie an vielen Geschäften vorbeigelaufen waren, erreichten sie eine Reihe von Häusern mit kleinen Vorgärten. Eine der Gartentüren stand offen. Der Rasen war ungepflegt, in den Beeten wucherte das Unkraut. Genau das Richtige für sie.
Francine war die erste, die sich hin und her rollte. Es folgten Honey und Otto und schließlich Li-Chee. Die Hunde wälzten sich im Dreck und rieben ihre Bäuche an dem kratzigen Gras. Sie wühlten mit ihrem Maul in der feuchten Erde. Ab und zu hielten sie hechelnd inne und sahen sich an, als wollten sie sagen: »Endlich!«
Denn es funktionierte. Langsam verschwand der ekelhafte Parfümgestank und wurde ersetzt durch den herrlichen Geruch nach Erde und Gras, feuchten Blättern und fauligem Kompost.
Sie schnüffelten aneinander, um sicherzugehen, dass sie wieder so rochen, wie es sich gehörte: nach Hund. Doch dann öffnete sich die Haustür und jemand schrie: »Raus aus meinem Garten! Verschwindet!«
Die Hunde sahen den Mann an. Sie hätten ihm gern für die Benutzung seines Gartens gedankt, aber darauf schien er keinen Wert zu legen und so trotteten sie zurück auf die Straße.
Nun, da sie die scheußlichen, klebrigen Parfüms los waren, unter denen sie so gelitten hatten, konnten sie die Gerüche, die ihnen bei jedem Schritt begegneten, erst richtig genießen. Gewürze aus einer Kebab-Bude … Taubendreck auf der Straße … ein alter Schuh in einem Gully … Staub und der saure Geruch von verschütteter Milch in einem Hausflur … eine tote Maus im Rinnstein …
Ganz zu schweigen von den aufregenden Düften, die einen Laternenpfahl umwehten!
Plötzlich blieb Otto stehen, weil er etwas entdeckt hatte. Zwischen all den Gerüchen von menschlichen Füßen, Hunden und Katzen, die vorbeigelaufen waren, hatte Otto einen Geruch aufgespürt, den er wiedererkannte. Er gehörte dem Jungen, der gerade bei Rent-a-Dog gewesen war, um seinen Hund mitzunehmen. Nun, als sie die Nasen zusammensteckten, konnten sie auch den Hund riechen. Es war Fleck, der kleine weiße Mischling, der ihr Freund geworden war.