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Aber sie kam wenigstens nicht in ein leeres Zuhause, ganz im Gegenteil. Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Großvater, ihren Zwillingsbrüdern und ihrer Schwester Pippa.

Die O’Brians waren arm. Kayleys Vater war bei einem Unfall auf einer Baustelle umgekommen, und obwohl ihre Mutter für eine wohlhabende Dame namens Mrs Naryan nähte und ihr Großvater eine Rente bekam, war das Geld knapp. Das kleine Haus war heruntergekommen, die Teppiche fadenscheinig und durch die Fenster drang der Geruch nach billigem Fett von der nahe gelegenen Burgerbraterei.

Doch wenn Kayley nach Hause kam, wurde sie umarmt und liebkost, und wenn man sie fragte, wie es ihr ging, dann wollte man es wirklich wissen, denn alle fanden die Arbeit bei den Carkers die interessanteste, die man sich nur vorstellen konnte.

Und die, die Kayley am stürmischsten umarmte und am meisten von ihr wissen wollte, war die zehnjährige Pippa.

»Hat dein Plan funktioniert?«, fragte sie ungeduldig. »Hat Mr Carker ihn behalten?«

Fleck hatte die vergangene Nacht bei ihnen verbracht und alle wollten wissen, was aus dem Streuner geworden war.

»Er hat ihm eine Frist bis Freitagabend gegeben, wenn ihn bis dahin keiner ausgeliehen hat, kommt er weg.«

Pippa war ein unbekümmertes, zupackendes Mädchen, aber nun erschien eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn.

»Ins Tierheim?«

Kayley nickte.

»Das ist so gemein! Er weiß ganz genau, dass sie dort die Hunde nur für drei Wochen behalten. Wenn keiner kommt und sie mitnimmt, werden sie eingeschläfert. Das ist eine feige Art, andere die Drecksarbeit machen zu lassen.«

Pippa wusste alles über die Hunde, um die Kayley sich kümmerte. Sonntags begleitete sie ihre Schwester oft, um beim Saubermachen und Füttern zu helfen, und sie war fest entschlossen, später einmal das Gleiche zu machen wie ihre große Schwester.

»Er muss Fleck behalten«, sagte sie jetzt.

»Das sieht Mr Carker aber nicht so«, sagte Kayley. »Außerdem eignet sich Fleck überhaupt nicht als Ausleihhund, er ist viel zu ungestüm. Er glaubt fest daran, dass ihn einer der Kunden für immer mitnimmt. Du solltest mal seine Augen sehen, wenn jemand reinkommt.«

Kayley zuckte mit den Schultern und seufzte. »Egal, wir müssen auf jeden Fall bis morgen früh einen Stammbaum basteln. Mr Carker will, dass der an seinem Käfig hängt.«

Nach dem Abendessen brauchten die Zwillinge Hilfe bei den Hausaufgaben und dann musste Kayley ihren Großvater im Rollstuhl die Straße hinunter zum Zeitungsladen fahren, wo er ein Lotterielos kaufte.

Aber schließlich war alle Arbeit getan und Kayley und Pippa gingen in das kleine Zimmer, das sie gemeinsam bewohnten, um für Fleck einen Stammbaum zu erfinden.

»Stammbäume sind immer ein wenig kompliziert und albern«, sagte Kayley. »Die Hündinnen haben ulkige Namen wie Wilhelmina Bossyboots von Kilimandscharo oder so ähnlich. Und je bedeutender die Zucht, desto länger der Name.«

Sie verbrachten viel Zeit mit Nachdenken, aber schließlich beschlossen sie, Flecks Mutter Rodelinda von Mercy Drive zu nennen, denn so hieß die Straße, in der sie wohnten und in der sie Fleck gefunden hatten.

»Und sein Vater könnte Frederick der Fünfte von Fillongley sein«, schlug Pippa vor. »Vielleicht bringt es ihm ja Glück, wenn wir ihn nach der Farm benennen.«

Fillongley war der Name der Farm, die den O’Brians gehört hatte, bis ihr Urgroßvater pleitegegangen war. Ein Bild davon hing über dem Kamin, und was immer sie in letzter Zeit versetzt oder verkauft hatten, das Bild rührten sie nicht an.

Kayley und Pippa dachten sich immer mehr Stammbäume aus, die immer wilder und verrückter wurden, bis es für Pippa Zeit war, ins Bett zu gehen.

Als Kayley ihre Schwester zudeckte, sagte sie: »Du könntest für Fleck beten. Bete, dass es irgendjemanden gibt, der ihn haben möchte.«

»Das mach ich«, sagte Pippa.

Und sie betete wirklich.

Aber Pippa war längst nicht so ein sanftes, nachgiebiges Mädchen wie Kayley, Pippa war eine Kämpferin. Sie wollte hinaus in die Welt gehen und sich dafür einsetzen, dass jeder streunende Hund das Recht auf ein anständiges Zuhause hatte. Überhaupt jeder, der arm und vom Leben benachteiligt war.

Als sie sechs war, hatte sie ein Mädchen namens Myrtle aufs Schulklo gezerrt und ihren Kopf in die Kloschüssel gehalten, weil Myrtle ein kleines Kind aus der Vorschule gequält hatte.

Als Kayley später in das Bett neben dem ihrer Schwester schlüpfte, konnte sie hören, wie Pippa im Schlaf vor Wut mit den Zähnen knirschte.

Als die Hunde die Nacht über in ihrem Gehege waren, wurde Fleck wieder fröhlich. Er war klug genug, nicht Li-Chees Platz neben Ottos linkem Fuß einzunehmen, aber er musste wenigstens nicht allein schlafen.

Otto war sehr erschöpft, es gibt nichts Anstrengenderes, als von fünfundzwanzig Schulkindern getätschelt zu werden, aber er schaffte es noch, Fleck mit der Zunge über den Kopf zu fahren, bevor er einschlief.

Am nächsten Morgen und erst recht am Morgen danach, dem besagten Freitag, begann das Warten wieder von Neuem.

Es hing nun ein Namensschild über Flecks Käfig und der Stammbaum, den Kayley auf ein offiziell aussehendes Stück Papier geschrieben hatte. Außerdem hatte Fleck eine Nummer bekommen, die 51. Jetzt fehlte nur noch jemand, der ihn ausleihen wollte, nur ein Einziger, nur für kurze Zeit, das würde schon genügen.

Aber der Tag verging und wieder kam niemand, der den kleinen Mischling haben wollte. Die anderen Hunde wurden immer unruhiger. Sie wussten sehr wohl, was mit Hunden geschah, die nie aus ihrem Käfig herauskamen. Sie wurden von zwei Männern in braunen Kitteln in eine Transportkiste gesteckt und kehrten nie wieder. Die Hunde konnten es kaum ertragen, wie Fleck seine Schnauze gegen die Gitterstäbe presste und mit seinen ungleichen Augen den Kunden entgegensah, die alle nicht wegen ihm kamen. Er wusste, dass er besser nicht jaulen sollte, aber es fiel ihm schwer. Wann immer sie konnte, kam Kayley vorbei, um ihn zu streicheln, doch während die Minuten verrannen, wurde die Stimmung in Raum A immer angespannter. Und als Queen Tilly anfing zu quietschen, weil ihre Wärmflasche kalt geworden war, vergaßen sich die anderen Hunde und fingen an zu knurren.

Um drei Uhr nachmittags kam Mr Carker mit seinem Klemmbrett herein.

»Anscheinend ist die Nachfrage nach Tottenham-Terriern nicht besonders groß«, sagte er zu dem kleinen Hund. »Wird Zeit, dass wir dich loswerden, du frisst mir ja sonst die Haare vom Kopf.«

Und er sagte Kayley, dass er die Männer von der Hundetransportfirma beauftragt hätte, Fleck ins Tierheim zu bringen.

Dann ging er aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Fleck kauerte sich in einer Ecke seines Käfigs zusammen. Er hatte am Ton der Stimme genau verstanden, was Mr Carker meinte. In seinem Leben als Streuner hatte er so etwas oft genug gehört.

Um halb vier hielt draußen auf der Straße ein großer Mercedes und ein Mann stieg aus. An seiner Hand hielt er einen schmächtigen Jungen.

4. Kapitel

Henry trifft eine Wahl

Wichtige Kunden empfing Mr Carker immer erst in seinem Büro, bevor er sie herumführte, und Mr Fenton, der Chef eines bedeutenden Energieunternehmens, war ganz offensichtlich sehr wichtig.

»Sie kennen ja sicher unsere Geschäftsbedingungen«, sagte Mr Carker. »Pro Stunde berechnen wir fünfundzwanzig Pfund und eine Kaution von dreihundert Pfund, die erstattet wird, wenn wir den Hund wohlbehalten zurückbekommen. Und was das Wochenende betrifft, so haben wir da spezielle Tarife …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Mr Fenton schnell. Henry hatte die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut und nicht zugehört. »Gibt es hier jemanden, der meinen Sohn ein wenig herumführen könnte, während wir uns ums Geschäftliche kümmern?«, sagte Mr Fenton leise mit einem vielsagenden Blick auf Henry.