Die vordersten Schiffe in der Allianz-Flotte beschleunigten weiter und hatten längst jene Geschwindigkeit überschritten, bei der sie noch feindliche Schiffe erfassen und angreifen konnten. Das reicht.
Höchste Zeit, dass ich die Kontrolle zurückerlange. Mit dem Daumen drückte er auf die Kommunikationskontrollen. »Hier spricht Captain Geary. Ich befehle hiermit allen Einheiten der Allianz-Flotte, sofort an ihren Platz in der Formation zurückzukehren! Alle Einheiten werden ihre Geschwindigkeit reduzieren und sicherstellen, dass sie nicht schneller als 0,1 Licht fliegen.« Es war ihm zuwider, einen solchen Befehl zu geben, während sie auf dem Weg ins Gefecht waren.
Gerade dann sollte jedem Commander gestattet sein, die Geschwindigkeit an die jeweilige Situation anzupassen. Doch Geary sah keine andere Lösung, um diesen Pulk davon abzuhalten, die Syndik-Korvetten erreichen zu wollen.
Er unterdrückte einen weiteren Fluch. Die angezeigten Positionen zahlreicher Schiffe wurden immer ungewisser, und es würde einige Minuten dauern, bis auch das am weitesten entfernte Schiff seinen Befehl erhalten hatte. »Den Schiffen des Dritten Fregattengeschwa-ders befehle ich, die Syndik-Korvetten anzugreifen. Jede Einheit, die sich in einer Position befindet, von der aus sie das Kurierschiff der Syndiks abfangen kann, erhält hiermit den Befehl, alles zu unternehmen, um das Schiff zu zerstören.«
Dann hielt er inne und wartete ab, was geschehen würde. Er wusste, ihm waren im Augenblick die Hände gebunden. Erst in ein paar Minuten würde er wissen, ob diesmal jemand seiner Order Folge geleistet hatte.
Zumindest konnte er erkennen, dass die Schlachtkreuzer auf dem Weg zur Flotte waren. Sie würden aber selbst die Nachzügler der Flotte erst in frühestens in drei Stunden erreichen. Wenigstens befolgten sie ihre Befehle.
Innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten wurde erkennbar, dass etwas mehr als die Hälfte der Schiffe ein wenig zögerlich damit begonnen hatte, Gearys letzten Befehl in die Tat umzusetzen. Da jedoch nun die einen Schiffe langsamer wurden, während die anderen nach wie vor beschleunigten, verlor die Flotte auch noch den letzten Anschein von Ordnung. Die vordere Kante des Keils hatte sich in einen verdrehten Klecks verwandelt, in dem viele der angezeigten Positionen seiner Schiffe höchst ungewiss waren.
Das Bild vom Rand der Flotte flackerte unablässig, da sich die Schiffe bei jeder Aktualisierung längst in einer neuen Position befanden. Ein Teil war umgekehrt und beschleunigte, um das Kurierschiff abzufangen. Die Orion, von einem Abfangkurs weit entfernt, hatte aus unerfindlichen Gründen mehrere Phantome auf den Kurier abgefeuert, obwohl Abstand und relative Geschwindigkeit viel zu groß waren, um auf einen Treffer hoffen zu können.
Auch die Position des leichten Syndik-Kreuzers hatte sich wie verrückt immer wieder geändert, und nun konnte man auf der Dauntless sehen, dass er Kurs auf die Flotte genommen hatte und dabei beschleunigte. Was macht er da? Er befindet sich in keiner Position, von der aus er den Kurier abschirmen könnte. Die Ansammlung der Allianz-Schiffe erstreckte sich inzwischen in drei Richtungen, wobei ein dünner Arm nach »oben« und damit auf den Kurs des Kurierschiffs zeigte. Eine weitere Gruppe steuerte nach wie vor auf die Syndik-Korvetten und deren Basis zu, die jetzt nur noch eine Stunde entfernt war, während ein ausgedehnter Pulk aus Schiffen sich auf die zugewiesenen Positionen in der Formation zurückfallen ließ. Der leichte Syndik-Kreuzer kam um den vierten Planeten herumgeflo-gen und schien von seinem gewaltigen Antriebssystem beschleunigt auf den unteren Rand des »Kleckses« zuzusteuern.
Geary studierte das Display und versuchte herauszufinden, was dieser Kreuzer beabsichtigte. Die geschätzten Geschwindigkeits-und Richtungsvektoren für dieses Kriegsschiff sprangen von Position zu Position, als es über 0,1 Licht hinaus beschleunigte. Dabei schien es auch immer wieder seine Flugroute zu ändern, weshalb sogar die um die relativistischen Effekte kompensierte Anzeige des Kreuzers unkontrolliert hin und her sprang und sich der errechnete Kurs mit jeder Aktualisierung der Daten änderte. Nur zwei Dinge schienen sicher zu sein: Das Schiff beschleunigte weiter, und es flog auf die Allianz-Flotte zu.
Aber warum? Wenn es fliehen will, warum steuert es dann auf uns zu?
Und wenn nicht, wie will es uns dann in einen Kampf verwickeln? So nah und schnell, wie es momentan ist, wird es an unseren Schiffen vorbeischießen und genauso wenig wissen, wo die sich befinden, wie wir im Gegenzug seine Position nicht bestimmen können. Selbst mit diesem immensen Antriebssystem muss es erst einmal Fahrt wegnehmen, bevor es…
»Verdammt!« Geary bemerkte nichts von der Reaktion der Brückencrew auf seinen lautstarken Fluch. Ich hätte es sehen müssen.
Ich hätte das schon längst durchschauen müssen. Ein Schiff mit einem solchen Antrieb muss für eine bestimmte Art von Angriff konstruiert worden sein. Er zeigte auf sein Display, auf dem der Syndik-Kreuzer als schnell wandernder, flackernder Punkt dargestellt wurde. »Er will die Titan erreichen!«
»Was?« Captain Desjani verfolgte Gearys Geste schockiert. »Wie soll das möglich sein? Bei diesem Tempo kann er gar nicht feststellen, wo exakt sich die Titan befindet.«
»Das Schiff ist genau dafür gebaut worden, Captain Desjani! Ich hätte es sofort wissen müssen, als ich es sah!« Wieder deutete er auf das Display und beschrieb einen Bogen durch die Front der Allianz-Flotte bis zur Titan. »Mit diesem Antrieb kann der Kreuzer so sehr beschleunigen, dass die relativistischen Effekte es nahezu unmöglich machen, ihn zu erfassen. Sobald er sich seinen Weg durch die Verteidigung gebahnt hat, die nicht auf ihn zielen kann, dreht er und benutzt das gleiche Antriebssystem, um so stark abzubremsen, dass er wieder langsam genug ist, damit er das Objekt angreifen kann, das von den Kriegsschiffen beschützt wurde.«
Desjani knurrte regelrecht, als sie das Display betrachtete. »Die Vorfahren mögen mir verzeihen. Er wird maximale Geschwindigkeit erreicht haben, bevor er sich durch unsere vordersten Einheiten pflügt. Wir haben kaum eine Chance, Treffer zu erzielen, solange wir seinen Kurs nicht exakt bestimmen können…«
»Das können wir nicht, weil wir ja nicht mal wissen, wo er sich in diesem Augenblick aufhält!« Geary hielt inne und bleckte seine Zäh-ne. »Aber wir wissen genau, wohin er will.«
»Zur Titan?« Desjanis Finger glitten über ihre Kontrollen. Ein riesiger, gestreckter Kegel nahm Gestalt an, dessen offene Seite den Bereich anzeigte, in dem sich nach den Berechnungen der Schiffssyste-me der Syndik-Kreuzer befinden musste. »Hier. Wenn der Kreuzer die Titan zum Ziel hat und so stark abbremsen muss, um die Titan zu erfassen, während er in Waffenreichweite vorbeifliegt, dann wird er hier das Bremsmanöver einleiten müssen und hier den Kurs der Titan kreuzen.« Sie zeigte auf den Ausgangspunkt des Kegels, der so dünn wie eine Nadelspitze war.
Geary nickte, da er ein plötzliches Triumphgefühl verspürte. Darum also hatten die Syndiks nicht mehr Schiffe dieser Art gebaut.
Wenn man erst einmal wusste, was das Ziel des Kreuzers war, konnten Begleitschiffe hinter dem großen Pulk ihn kurz vor diesem Ziel abfangen. Aber Gearys Erleichterung legte sich schnell wieder, als er den Bereich rund um den von Desjani gekennzeichneten Kurs musterte. Da ist niemand, der den Kreuzer aufhalten kann. Die Eskorte der Titan ist immer noch zu weit entfernt, weil sie sich auf die sinnlose Jagd nach den Korvetten begeben haben. Die Reservegeschwader sind ebenfalls in alle Richtungen verstreut, und die Titan ist noch weiter zurückge-fallen, weil die Flotte sich von ihr entfernt hat.