Die Antwort ließ Gearys Wut wieder hochkochen. Wie kann sie es wagen, sich so scheinheilig zu geben? Es sieht doch so aus, dass die Marines nicht direkt an der Ermordung von Gefangenen beteiligt sind, weil sie einfach wegsehen. Das ist auch nicht gerade ein tugendhaftes Verhalten.
Aber immerhin haben sie sich nicht unmittelbar die Hände schmutzig gemacht, das muss ich ihnen zugestehen. Das Einzige, was er jedoch darauf erwiderte, war: »Das hat sich jetzt geändert. Sie werden weiter für die Gefangenen verantwortlich sein und die notwendigen Vorbereitungen treffen, damit ihnen ein Bereich mit angemessenen Le-benserhaltungssystemen bleibt und sie die Möglichkeit haben, nach unserer Abreise Hilfe zu rufen.«
Carabalis Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich war der Ansicht, die gesamte Basis sollte zerstört werden, Sir.«
»Genügend Platz, dazu Nahrungsmittel und Wasser sowie Le-benserhaltungssysteme, damit die Gefangenen lange genug überleben, bis Hilfe eintrifft. Außerdem eine Haupt-und eine Reserveanla-ge, um mit der bewohnten Welt in diesem System Kontakt aufzunehmen.« Es war für Geary kein Problem, diese Anweisungen her-unterzurasseln. Jeder hatte sie einst auswendig gekonnt, und jeder Offizier hatte sie auswendig können müssen. Und hatte sie befolgen müssen. »Bis zu unserer Abreise werden die Gefangenen entsprechend dem Kriegsrecht bewacht und behandelt. Irgendwelche Fragen?«
Carabali schien ihn sehr eindringlich zu mustern. »Ich verstehe das richtig, dass Sie mir diesen Befehl persönlich erteilen? Der kann ohne Ihre Zustimmung von keinem anderen Offizier der Flotte aufgehoben werden?«
»Richtig, Colonel. Ich habe volles Vertrauen in Sie, dass Sie meinen Befehl exakt ausführen werden.«
»Danke, Captain Geary. Ich habe verstanden und werde Ihren Befehl befolgen.« Sie hob die Hand zu einem präzisen Salut, dann ver-blasste das Bild.
Geary lehnte sich zurück, rieb sich die Augen und sah wieder zu Desjani. »Danke, Captain.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan, Sir«, antwortete sie, wich aber beharrlich seinem Blick aus.
Er sah sich auf der Brücke um und stellte fest, dass alle Offiziere und Matrosen sich auf irgendetwas konzentrierten, damit sie ihm nicht ins Gesicht schauen mussten. »Captain Desjani…«
»Die übliche Verfahrensweise«, unterbrach sie ihn leise.
Nachdem er tief durchgeatmet hatte, fragte er: »Wie lange schon?«
»Ich weiß nicht.«
»Offiziell?«
Diesmal zögerte sie kurz, dann schüttelte sie den Kopf, ohne auf-zusehen. »Nie offiziell. Nie schriftlich festgehalten. Nur stillschwei-gend.«
Dann habt ihr alle gewusst, dass das nicht richtig war. Dass es nicht richtig sein konnte. Sonst wäre es schriftlich festgehalten worden.
Mit schwacher Stimme redete sie weiter: »Wir haben Ihre Reaktion gehört und gesehen, Captain Geary. Wie konnten wir es dazu kommen lassen. Wir haben die Vorfahren entehrt, nicht wahr? Wir haben Sie entehrt.«
Obwohl Desjani unverändert seinem Blick auswich, wandte sich nun Geary von ihr ab. Das haben sie tatsächlich gemacht. Sie haben etwas Schreckliches getan. Sie sind gute Menschen, aber sie haben etwas wirklich Schreckliches getan. Was soll ich dazu sagen? »Captain Desjani… Sie alle… Ihr bisheriges Handeln müssen Sie mit Ihren eigenen Vorfahren ausmachen. Bitten Sie sie um Verzeihung, nicht mich. Ich möchte… ich möchte Sie alle daran erinnern, dass wir eines Tages nach unserem Handeln beurteilt werden. Ich werde das nicht machen, weil ich kein Recht dazu habe. Doch ich werde nicht zulassen, dass jemand, der meinem Kommando untersteht, ein unehrenhaftes Verhalten an den Tag legt. Ich werde nicht zulassen, dass einige der besten Offiziere und Unteroffiziere ihren eigenen Ruf besudeln. Und Sie sind gute Offiziere, die gute Matrosen befehligen. Matrosen der Allianz-Flotte. Jeder von uns, wir alle zusammen. Es gibt Dinge, die tun wir einfach nicht. Ich möchte, dass von diesem Moment an jeder dafür sorgt, dass all unser Handeln ein gutes Licht auf unsere Vorfahren wirft. Sorgen wir dafür, dass wir die höchsten Maßstäbe erfüllen, denn sonst werden wir diesen Krieg gewinnen und im Spiegel uns selbst als unseren Feind zu sehen bekommen.«
Die anderen murmelten Antworten, und als sich Geary umsah, schaute ihm jeder in die Augen. Es war schon mal ein Anfang.
Zum ersten Mal begann er sich zu fragen, ob es vielleicht ein Segen war, dass er die vergangenen hundert Jahre verschlafen hatte.
Der Konferenzraum schien einmal mehr den endlos langen Tisch zu beherbergen, an dem Dutzende von Offizieren saßen, obwohl Geary wusste, dass nur Captain Desjani in Person bei ihm war. Im Moment sahen ihn alle Befehlshaber an, wobei die Gesichtsausdrücke von ergeben bis feindselig reichten, fast in jedem Fall noch mit einer Spur Verwunderung versehen. »Kaliban?«, fragte Captain Faresa schroff und deutete mit einer wegwerfenden Geste auf das Navigationsdis-play der lokalen Sterne, das über dem Tisch schwebte. »Sie wollen wirklich, dass wir den Sprung nach Kaliban unternehmen?«
Geary nickte und zwang sich zur Gelassenheit. Er war inzwischen an einem Punkt angelangt, da musste er nur an Captain Faresa oder Captain Numos denken, und schon wurde er wütend. Er konnte sich eine solche Ablenkung nicht leisten. Außerdem war das unprofessionell, und er durfte wohl kaum von anderen professionelles Verhalten erwarten, wenn er selbst nicht dazu fähig war. »Ich habe meine Gründe erklärt.«
Captain Numos schüttelte den Kopf auf eine Weise, die Geary an den bürokratischen Syndik-Commander erinnerte. »Ich kann einem so überhasteten und sinnlosen Vorgehen nicht zustimmen.«
»Für mich ergibt das durchaus einen Sinn«, warf Captain Tulev ein.
»Das wundert mich nicht«, konterte Numos herablassend.
Tulev wurde rot, redete aber ruhig weiter. »Captain Geary hat die zu erwartenden Reaktionen des Feindes auf unsere gegenwärtige Situation analysiert. Ich kann an seinen Argumenten keinen Denkfeh-ler entdecken. Die Syndiks sind keine Narren, sie werden bei Yuon mit einer großen Streitmacht auf uns warten.«
»Dann werden wir uns mit ihnen beschäftigen.«
»Diese Flotte erholt sich noch immer von der Konfrontation im Heimatsystem der Syndiks! Unsere Verluste können erst ersetzt werden, nachdem wir heimgekehrt sind. Ihnen muss doch klar sein, dass wir uns keine weitere Auseinandersetzung mit einem großen Kampfverband erlauben können.«
»Ängstlichkeit im Angesicht des Feindes…«, setzte Numos an.
»Wir sind nicht durch Ängstlichkeit in diese Lage geraten«, unterbrach ihn Captain Desjani und ignorierte Numos’ zornigen Blick.
»Wir sind hier, weil unsere vorrangige Sorge einem aggressiven Auftreten galt, anstatt darüber nachzudenken, was wir eigentlich machen.« Sie verstummte, während die anderen Offiziere sie zum Teil ungläubig, zum Teil verständnislos ansahen.
Captain Faresa strengte sich sichtlich an, einen herablassenden Tonfall anzuschlagen. »Soll ich das so verstehen, dass der befehlshabende Offizier eines Schiffs der Allianz-Flotte Aggressivität als eine schlechte Eigenschaft betrachtet?«
Geary beugte sich vor. »Nein. Sie sollen das so verstehen, dass Aggressivität in Kombination mit unüberlegtem Handeln eine schlechte Eigenschaft ist. Das ist meine Meinung, Captain Faresa.«
Sie kniff die Augen zusammen und setzte zum Reden an, doch dann verharrte sie in dieser Haltung. Geary betrachtete sie und musste sich ein Grinsen verkneifen. Sie wollten jetzt Flottentraditionen zitieren, nicht wahr, Faresa? Vielleicht sogar Black Jack Geary zitieren.
Aber ich bin die eine Person, mit der Sie Ihre Argumente nicht untermau-ern können.
Ein Stück weiter den Tisch entlang meldete sich ein Commander zu Wort, der hastig redete. »Es ist allgemein bekannt, dass zu langer künstlicher Tiefschlaf nicht ohne Folgen für die betreffende Person bleibt.« Er hielt inne, als er merkte, wie sich alle Augen auf ihn richteten, dann fuhr er fort: »Dies ist nicht der Offizier, dessen Vorbild diese Flotte ein Jahrhundert lang zum Handeln inspiriert hat. Zumindest ist er es nicht mehr.«