Geary schnaubte. »Vermutlich sollte ich mich nicht beklagen, dass ich gefunden wurde. Immerhin wäre ich schon seit Langem wirklich tot gewesen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob selbst meine Vorfahren mir in dieser Situation eine Hilfe sein können.«
Mit einem Grinsen und einer ausholenden Geste erwiderte Duellos: »Dann können Ihnen vielleicht meine beistehen, wenn es darum geht, feindlichen Flotten und plündernden Schaulustigen aus dem Weg zu gehen. Aus Erfahrung, meine ich. Unter meinen Vorfahren finden sich auch ein paar Piraten.«
»Tatsächlich? Jede Familie hat wohl ihre Leichen im Keller. Ich kann einige Rechtsanwälte vorweisen.«
»Oh, mein Beileid.«
»Wir haben gelernt, damit zu leben.«
Duellos trat einen Schritt zurück und salutierte. »Sie haben uns allen vor Augen geführt, wie wir mit unserem Handeln das Ansehen unserer Vorfahren herabgewürdigt haben. Aber Sie taten es auf eine Weise, als könne so etwas schon mal passieren. Sie benutzten Begriffe wie ›uns‹ und ›wir‹, und damit stellten Sie sich in eine Reihe mit uns. Das werden viele von uns nicht vergessen.«
Geary erwiderte den Salut und dankte dem Vorfahr, der ihn dazu veranlasst hatte, diese Worte zu wählen. Ich weiß, dass ich mir darüber keine Gedanken gemacht habe. »Vielen Dank.«
»Es ist die Wahrheit, weiter nichts.« Duellos nahm die Hand herunter, dann verschwand sein Bild.
Geary ließ sich schwer in den Sessel in seiner Kabine sinken und betrachtete trübsinnig das Display, das er aktiviert hatte. Es zeigte die aktuelle Situation im Corvus-System. Nur ein paar Schiffe der Allianz-Flotte erledigten noch ihre Aufgaben bei der Syndik-Basis auf der Eiswelt, während der größte Teil der Flotte in einer halbwegs passablen Formation tiefer in das System einflog. Vierzehn Stunden, seit wir hier angekommen sind. Wie lange noch, bis die Syndiks die Verfolgung ernsthaft aufnehmen?
Ich kann nicht fassen, wie müde ich bin. Kann ich es wagen, mich schlafen zu legen, oder wird die Flotte sich in ihre Bestandteile auflösen, sobald ich nicht hinsehe?
Die Türglocke ertönte. Geary setzte sich auf, bis er eine förmliche-re Haltung eingenommen hatte. »Herein.«
»Captain Geary«, grüßte ihn Co-Präsidentin Rione auf ihre übliche zurückhaltende Art. »Können wir uns unterhalten?«
»Selbstverständlich.«
Er deutete auf einen freien Platz, doch Rione ging weiter und betrachtete wieder die Sternenlandschaft, die ein Schott in seinem Quartier beherrschte. »Zunächst einmal möchte ich hoffen, dass meine Einmischung auf der Brücke sich nicht nachteilig auf Ihre Arbeit ausgewirkt hat.«
»Keineswegs. Sie haben gute Beiträge geleistet, und ich weiß Ihren Ratschlag zu schätzen.«
Für einen winzigen Augenblick verzog Rione den Mund zu einem Lächeln, das gleich wieder verschwunden war. »Mehr als Captain Desjani, kann ich wohl annehmen.«
»Sie ist der Captain der Dauntless«, machte Geary in einem bewusst neutralen Tonfall klar. »Die Brücke ist sozusagen ihr Thron-saal, der Ort, von dem ihre Autorität ausgeht. Jeder Captain reagiert ein wenig gereizt, wenn ein anderer auf dieser Brücke seine Autorität ins Spiel bringt.«
Rione drehte sich kurz um und bedachte ihn mit einem forschen-den Blick. »Reagiert sie auf Sie genauso?«
»Nein. Ich gehöre zum Protokoll, und ich habe eine klar definierte Rolle. Ich lasse ihr die Befehlsgewalt über ihr Schiff und kümmere mich um die Flotte insgesamt. Solche Dinge bereiten keine Schwierigkeiten. Aber es gibt kein echtes Protokoll für die Situation, wenn sich ein hochrangiger Zivilist auf der Brücke aufhält. Da sind Reibe-reien vorprogrammiert. Captain Desjani ist jedoch eine gute Befehlshaberin, die sich an Ihr Auftauchen auf der Brücke gewöhnen und kein unangemessenes Verhalten Ihnen gegenüber an den Tag legen wird.«
»Danke, Captain Geary.« Rione nickte ihm zu. »Ich möchte Ihnen gern klarmachen, dass ich Captain Desjanis deutliche Worte zum Thema automatische Kriegsschiffe nicht falsch aufgenommen habe.
Es ist ein unendlicher Streit, und ich weiß die Meinung derjenigen sehr zu schätzen, die an vorderster Front kämpfen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals einer künstlichen Intelligenz eine Waffe anvertrauen würde.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, sehe ich das so wie Sie«, meinte Geary schulterzuckend. »Das gleiche Problem gab es schon zu meiner Zeit.
Wenn eine künstliche Intelligenz nicht schlau genug ist, um selbst über den Einsatz einer Waffe zu entscheiden, dann kann man ihr im Gefecht nicht sonderlich trauen. Wenn eine künstliche Intelligenz schlau genug ist, um selbst über den Einsatz einer Waffe zu entscheiden, dann kann man ihr überhaupt nicht trauen.«
Abermals lächelte Rione flüchtig. »Stimmt. Aber es wird Zeit, dass ich das Thema anschneide, das mich eigentlich hergeführt hat.« Geary wartete ab, während sie wieder die Sterne betrachtete. »Ich halte es für nötig, Ihnen etwas zu gestehen, Captain Geary. Sie haben mich dazu gebracht, dass ich mich zutiefst schäme.«
»Wenn es um diese Sache mit den Gefangenen geht…«
»Ja, darum geht es. Ich nehme an, Sie sind es leid, sich anhören zu müssen, dass wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen.«
»So war das nicht gemeint.«
»So habe ich es auch nicht aufgefasst.« Co-Präsidentin Rione schien sich erneut der Sternenlandschaft zu widmen. »Captain Geary, ich gehöre nicht zu jenen Menschen, die glauben, früher war alles viel besser. Aber ich weiß seit einer Weile, dass der Druck dieses Krieges den Verstand derjenigen verdreht hat, die ihn führen. So viele Dinge werden einfach übersehen. Und wir haben einige sehr wichtige Dinge vergessen.«
Geary machte eine ernste Miene und tat so, als betrachte er eindringlich seine Hände. »Sie haben alle eine Menge durchgemacht.«
»Das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung.« Rione hielt den Kopf gesenkt, die Lippen hatte sie zusammengepresst. »Es ist allzu leicht, so wie der Feind zu werden, den man hasst, nicht wahr, Captain Geary?«
»Darum haben wir das Kriegsrecht. Darum versuchen wir, diejenigen Ehre zu lehren, die in den Kampf geschickt werden.«
»Das Kriegsrecht ist bedeutungslos, wenn diejenigen, die es befolgen sollen, nicht daran glauben. Ehre kann verdreht und gegen sich selbst gerichtet werden, bis sie auch die schlimmsten Taten rechtfertigt. Das wissen Sie, Captain Geary.«
Er nickte nachdrücklich »Ich befinde mich nicht in einer Position, um über andere zu urteilen, Madam Co-Präsidentin. Mir wurde der Luxus zuteil, die vielen Jahre zu versäumen, die zu der gegenwärtigen Situation geführt haben.«
»Luxus? Sie machen nicht den Eindruck, dass Sie diese Erfahrung genossen haben.« Rione hob den Kopf, sah aber noch immer nicht Geary an. »In den letzten Stunden habe ich mich im Rahmen der verfügbaren Zeit mit meinen geheimen Archiven befasst und mich in die wahre Geschichte dieses Kriegs vertieft, um die Frage zu klären, wie es so weit kommen konnte. Sie sollen wissen, dass es keine vorsätzlich angestrebte Absicht war. Ich konnte feststellen, dass hier und da die Gesetze mal etwas großzügiger ausgelegt worden sind, und immer aus scheinbar guten Gründen. Beim nächsten Mal war man dann noch eine Spur großzügiger.«
»Und nur mit den besten Absichten im Hinterkopf«, warf Geary tonlos ein.
»Ja. Im Lauf der Zeit akzeptierten wir Schritt für Schritt immer etwas mehr. Wir begannen zu glauben, dass die abscheulichen Taten der Syndikatwelten genauso abscheuliche Taten von unserer Seite rechtfertigten.« Als sie Geary schließlich ansah, konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.