Jade zog die Augenbrauen hoch. »Träume, wie? So ist das also, ja?«
Auraya lachte. »Er hat das schon seit langer Zeit nicht mehr getan. Und jetzt geh. Je früher du aufbrichst, umso eher kann ich zu den Siyee zurückkehren.«
Jade wandte sich ab und ging auf den Höhleneingang zu. Dort drehte sie sich noch einmal um, dann verschwand sie in den Schatten. Auraya betrachtete den Eingang noch lange Zeit, nachdem die andere Frau die Höhle verlassen hatte.
Sie ist seltsam, dachte sie. Verschroben und zynisch, aber auch stark und entschlossen. Ich nehme an, so wird man, wenn man so lange gelebt hat. Ob ich auch so werde? Ich nehme an, es könnte mir Schlimmeres passieren. Unter all ihrer Launenhaftigkeit verbirgt sich ein Optimismus in ihr, der mir Trost schenkt. Sie kann immer noch über alle möglichen Dinge lachen. Vielleicht hat sie einfach so viel durchgemacht, dass sie weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis schlimme Situationen sich von selbst regeln.
Sie hatte sich bereiterklärt, Jade drei Tage Vorsprung zu geben, bevor sie selbst die Höhle verließ. Auraya hatte keine Ahnung, wie weit ein erdgebundener Mensch in drei Tagen kommen konnte. Hoffentlich weit genug, um allen Siyee auszuweichen, die die Götter vielleicht als Späher hinter ihr herschickten.
Sie hat so lange gelebt, sagte Auraya sich. Sie kann bestimmt auf sich selbst aufpassen.
Schließlich griff sie nach ihrer Hälfte des Brotes und begann zu essen.
Tintel schwieg, während sie Mirar von einer Plattform zur nächsten führte. Er spürte, dass sie ganz und gar davon beansprucht wurde, Pläne zu schmieden und sich Sorgen zu machen, und ein Stich des Mitgefühls durchzuckte ihn. In einem städtischen Traumweberhaus herrschte immer große Geschäftigkeit, und je mehr Traumweber es zu betreuen galt, desto mehr Arbeit gab es. Dabei konnte er ihr nicht helfen, aber er konnte sie bei Notfällen unterstützen, wie sie sie heute Abend hatten bewältigen müssen.
Wenn sie nicht schon vorher festgestellt hätte, dass er mächtige Gaben besaß, dann würde sie es jetzt wissen. Sie hatten eine Frau besucht, die nach der Geburt eines Kindes heftig geblutet hatte, und Mirar hatte sie nur retten können, indem er sie mit Magie heilte. Tintel war sichtlich beeindruckt gewesen, hatte jedoch nichts gesagt.
Sie hatte bei dem Versuch, die Blutung zu stillen, eine Methode angewandt, die ihm noch nie begegnet war. Es war nicht die erste Weiterentwicklung in der Heilkunst der einheimischen Traumweber, die er seit seiner Ankunft in der Stadt bemerkt hatte. Eigentlich hätten Fortschritte und Entdeckungen der Traumweber sich durch Gedankenvernetzung überall ausbreiten sollen, aber die Einschränkungen und die allgemeine Intoleranz im Norden hatten die Weitergabe des Wissens dorthin verhindert oder verlangsamt.
Sie überquerten die Brücke zum Traumweberhaus. Er öffnete Tintel die Tür, und sie lächelte ihn dankbar an.
»Ich wünschte, die Männer von Dekkar hätten die Manieren jener aus dem Norden«, bemerkte sie trocken. »Danke für deine Hilfe, Wilar.«
Er zuckte die Achseln und folgte ihr hinein. In der Halle lag der Geruch von Essen, und sein Magen knurrte.
»Ich werde jemanden bitten, dir etwas zu essen zu bringen«, sagte er, weil er vermutete, dass Tintel direkt in ihre Räume gehen würde, um zu arbeiten.
»Danke.« Sie nickte. »Vergiss dich selbst nicht.«
Er lächelte. »Das werde ich schon nicht tun.«
Einige Diener und Traumweber waren noch in der Küche. Eine Traumweberin bereitete eine Mahlzeit für ihren Säugling vor, während eine andere sich über das Schnarchen ihres Mannes beklagte. Vom Abendessen waren Suppe und etwas von dem teigigen Brot übrig geblieben, das man hier bevorzugte. Er bat die jammernde Ehefrau, Tintel etwas von beidem zu bringen, dann ging er mit seiner Portion in die Halle hinaus.
Mehrere der jüngeren Traumweber saßen am Tisch. Bei seiner Ankunft blickten sie alle auf, dann schauten sie hastig wieder auf ihr Essen hinab. Ein verlegenes Schweigen folgte, und Mirar fing eine Mischung aus unterdrückter Erheiterung und Spekulationen von ihnen auf.
Er stellte seinen Teller auf den Tisch, setzte sich und begann zu essen.
Das Schweigen dauerte an, doch jetzt wurde die Atmosphäre langsam peinlich. Als einer der Traumweber sich räusperte, um zu sprechen, schienen die anderen erleichtert zu sein.
»Verzeih uns unser Schweigen, Wilar«, sagte der Traumweber. »Deine Ankunft hat uns klargemacht, dass wir Klatsch und Tratsch ausgetauscht haben.«
Mirar lächelte. »Die Menschen tratschen nun einmal. Es liegt in ihrer …« Er suchte nach dem richtigen Wort für »Natur«, und einer der Traumweber ergänzte es. »Was habe ich verpasst?«
Sie lächelten und tauschten einen Blick. Seine Frage hatte ihre Verlegenheit ein wenig gelindert, nicht jedoch die Spannung im Raum.
»Die neuesten Gerüchte besagen, du seist Mirar«, erwiderte der jüngste der Traumweber auf Avvensch.
Die anderen musterten den jungen Mann mit einem missbilligenden Stirnrunzeln. Er breitete die Hände aus. »Er sollte Bescheid wissen. Was ist, wenn jemand die Geschichte ernst nimmt? Das könnte peinlich sein.«
Mirar lachte und schüttelte den Kopf. »Mirar? Ich? Warum? Weil ich ein Fremdländer bin?«
Sie nickten.
»Mirar ist in den Süden gekommen«, fügte ein anderer hinzu. »Er muss hier irgendwo sein.«
»Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit«, bemerkte der ältere Traumweber.
»Wir wissen gar nichts mit Bestimmtheit.«
Sie begannen, wild durcheinanderzureden, so dass Mirar Mühe hatte, sie zu verstehen. Plötzlich wandte sich einer der Traumweber, die Stillschweigen bewahrt hatten, zu ihm um.
»Du bist also nicht Mirar?«
Mirar stutzte. Wenn er eine direkte Frage leugnete und irgendwann in der Zukunft seine Identität offenbaren musste, würde er gleichzeitig offenbaren, dass er sie belogen hatte. Es war nie gut zu lügen. Die Menschen nahmen es übel, selbst wenn sie wussten, dass die Lüge gerechtfertigt war.
Daher lächelte er nur bescheiden. »Ich bin wegen einer Frau hier, und ich möchte ihr, ähm, die Illusion nicht nehmen.«
Allgemeines Gelächter war die Antwort. Einer der Männer verdrehte die Augen.
»Ich wette, es ist Dardel.«
»Und sie war diejenige, die mir gegenüber angedeutet hat, Wilar könnte Mirar sein«, sagte ein anderer.
»Das erklärt alles.«
Sie lachten abermals.
Der Traumweber, der neben Mirar saß, beugte sich vor. »Du Glückspilz«, murmelte er.
»Wir sollten ihr alle erzählen, dass sie in Bezug auf Wilar recht habe, während wir allen anderen klarmachen, dass sie sich irrt«, schlug der jüngste Traumweber vor. »Was glaubst du, wie lange wir die Wahrheit vor ihr verbergen können?«
»Tintel würde es ihr sagen.«
»Dann weiht eben auch Tintel nicht ein.«
»Sie würde von allein dahinterkommen.«
Mirar lächelte und lauschte, während die anderen Pläne schmiedeten, wie sie Dardel aufziehen konnten. Es schien ihnen damit jedoch nicht ernst zu sein, was Mirar erleichterte.
Was würden sie tun, wenn sie herausfänden, dass Dardel recht hat?, fragte er sich. Diese Traumweber würden ihn wahrscheinlich mit Begeisterung willkommen heißen. Mit mehr als Begeisterung. Das war das Problem. Es war so lange her, seit er unter seinen eigenen Leuten gewesen war, dass sie ihn jetzt voller Ehrfurcht betrachteten.
Es ist eine Ironie. Ein Jahrhundert lang haben die Götter die Lüge verbreitet, wir Unsterblichen hätten die Menschen ermutigt, uns als Göttern zu huldigen, und jetzt scheint es, als hätten meine Leute in meiner Abwesenheit begonnen, genau das zu tun.
Sie werden darüber hinwegkommen, dachte er. Es sind nicht meine Leute, um die ich mir Sorgen machen muss, es sind die Pentadrianer. Bisher war das, was ich gesehen habe, durchaus ermutigend. Keiner der Traumweber hier konnte von mehr als einer Handvoll Konflikten zwischen Traumwebern und Pentadrianern während der letzten Jahrzehnte berichten, und bei diesen Streitigkeiten ging es nur um Geld.