»Wie ist es gelaufen?«, fragte Sirri.
»Sehr gut«, antwortete Auraya. »Jade hat sich auf den Heimweg gemacht. Ich habe viel gelernt, während ich mit ihr zusammen war. Sie verfügt über erstaunliche Kenntnisse der Heilkunst.« Auraya deutete auf den Beutel, den sie mitgebracht hatte.
»Und doch konnte sie ihre eigene Krankheit nicht behandeln?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Sie hat nach mir schicken lassen, weil sie allein nicht bewerkstelligen konnte, was sie tun musste.«
»Dann geht es ihr jetzt also wieder besser?«
»Ja.«
Sirri nickte. »Gut.« Sie lächelte. »Dann haben wir dich wieder für uns.«
»Ist irgendetwas passiert, während ich fort war?«
»Nichts Dramatisches. Es gab nur eine kleine Auseinandersetzung zwischen den Stammesführern.« Sirri seufzte. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit, um dir die Angelegenheit zu erklären. Als die Nachricht von deiner Ankunft kam, war ich gerade bei einer Versammlung der Anführer. Ich habe eine Pause verfügt, aber ich kann nicht lange fortbleiben. Ich muss wieder hingehen und versuchen, etwas Vernunft in die beiden Köpfe zu bekommen.«
»Worum geht es bei der Auseinandersetzung?«
Sirri verzog das Gesicht. »Der Feuerbergstamm glaubt, ein Anrecht auf alle Erträge einer Mine zu haben, obwohl sich nur ein Teil davon in ihrem Tal befindet.«
»Ah. Das wird nicht leicht zu klären sein. Du hast mein Mitgefühl.«
»Danke«, erwiderte Sirri trocken, dann trat sie auf den Eingang zu.
»Komm später noch einmal her und erzähl mir davon, wenn du Zeit hast.«
»Das werde ich tun.«
Sirri schlüpfte durch den Türbehang und eilte davon. Endlich allein, ging Auraya zu einem Stuhl und setzte sich.
Alles ist wieder normal, überlegte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein, es sieht nur auf den ersten Blick so aus. Mein Geist ist abgeschirmt, und mein Körper altert nicht mehr. Soweit es die Götter betrifft, ist nichts mehr so, wie es war - oder wie es sein sollte.
Seit Huans und Sarus letztem Besuch hatte sie nichts mehr von den Göttern gespürt. Nachdem die beiden davongeeilt waren, um sich auf die Suche nach den anderen Göttern zu machen, hatte Auraya erwartet, dass Yranna, Lore und Chaia erscheinen würden, und sei es auch nur, um Huans Behauptungen zu überprüfen.
Vielleicht hat Huan Chaia nichts davon erzählt, dachte sie. So vieles hängt von Chaia ab. Ich muss mit ihm sprechen. Ich muss wissen, ob er akzeptieren wird, was ich getan habe.
Sie erwog einen Moment lang die Möglichkeit, ihn zu rufen, aber auf diese Weise hatte sie in der Vergangenheit nicht immer seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Stattdessen beschloss sie, sich mit Hilfe des Gedankenabschöpfens auf die Suche nach ihm zu machen.
Sie schloss die Augen, verlangsamte ihre Atmung und ließ sich in eine Traumtrance sinken. Zuerst schöpfte sie die Gedanken der Siyee um sie herum ab und entdeckte dabei Männer und Frauen, die häusliche Arbeiten verrichteten, und eine Gruppe von Kindern, die ein Spiel spielten. Schließlich sandte sie ihre Sinne weiter aus und erspürte die Geister in der Welt als Gedankenpunkte wie winzige Lichter, dann suchte sie nach größeren, helleren Präsenzen.
Sie entdeckte eine unvertraute, weibliche Präsenz und vermutete, dass sie Yranna gefunden hatte, denn sie war überzeugt davon, dass sie Huan sofort erkannt hätte. Die Göttin stand mit niemand anderem in Verbindung, und Auraya konnte ihre Gedanken nicht hören. Die Bestätigung, dass sie nicht in der Lage war, die Gedanken der Götter zu hören, war beruhigend. Sie zog weiter und fand eine männliche Präsenz. Es war nicht Chaia, daher setzte sie ihre Suche fort.
Ich tue das, um Chaia zu finden, nicht um zu lauschen, sagte sie sich.
Zu guter Letzt nahm sie ein Summen wahr, wie das Geräusch von jemandem, der gerade noch in Hörweite war. Sie rückte näher heran, und ein Gefühl des Triumphs stieg in ihr auf, als sie Chaias Stimme erkannte.
… sind an Ort und Stelle. Was glaubst du, was sie als Nächstes tun werden?
Das kommt darauf an, ob sie gehört haben, was in Jarime geschehen ist. Sie wären Narren, wenn sie das Gleiche noch einmal versuchen würden. Die zweite Stimme gehörte Lore.
So dumm sind sie nicht.
Nein, aber wenn sie Befehle bekommen haben, welche Wahl haben sie dann?
Keine, antwortete Chaia. Es wird interessant sein, das zu beobachten.
Ja. Wie dem auch sei, ich bin hergekommen, um dir mitzuteilen, dass deine Favoritin ins Offene Dorf zurückgekehrt ist.
Ah.
Huan wird verlangen, dass wir jetzt eine Entscheidung treffen.
Natürlich. Du weißt ja, wie sehr Huan Komplikationen liebt, stumpfsinniges Miststück, das sie ist.
Auraya war erheitert, aber auch überrascht. Sie bezweifelte, dass Chaia so von Huan gesprochen hätte, wenn er gewusst hätte, dass Auraya ihn hörte.
Es gibt interessante Komplikationen, und es gibt gefährliche, warnte Lore.
Auraya ist nicht gefährlich - oder zumindest wäre sie es nicht, wenn Huan aufhören würde, sie zu manipulieren, erwiderte Chaia.
Woher willst du wissen, ob Auraya gefährlich ist oder nicht, wenn du nicht in ihre Gedanken sehen kannst?
Weil ich mir die Zeit genommen habe, sie kennen zu lernen. Sie wird uns nicht verraten, es sei denn, wir treiben sie dazu.
Sie wird dich nicht verraten.
Nein. Ironischerweise habe ich das Huan zu verdanken.
Also, was wirst du tun?, fragte Lore.
Ich werde nicht zulassen, dass das Miststück sie tötet.
Selbst wenn die anderen dich überstimmen?
Dann erst recht nicht. Die Dinge werden gerade erst interessant. Bedenke dies: Es gibt andere Möglichkeiten, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ich habe die Anwerbung von Menschen immer ihrer Auslöschung vorgezogen.
Ich stelle fest, dass ich dir mehr und mehr zustimme. Ich frage mich, ob ich Yranna überreden könnte …
Deine Chancen stünden besser als meine.
Ich werde es versuchen.
Als Lore verschwand, zog Auraya langsam ihren Geist zurück. Sie hatte mehr Antworten gefunden, als sie erwartet hatte.
Bevor du dich davonschleichst, Auraya …
Sie erstarrte.
Chaia?
Ja, ich kann spüren, dass du da bist, obwohl du dich sehr still verhalten hast. Wie oft hast du uns schon auf diese Weise nachspioniert?
Nur zweimal. Das erste Mal war ein Versehen. Diesmal bin ich gekommen, um dir eine Frage zu stellen.
Dann frag. Chaia klang nicht verärgert, nur erheitert.
Wirst du … wie lange weißt du schon, dass ich gelauscht habe?
Von dem Augenblick an, als du bei uns angekommen bist.
Und Lore?
Hat keine Ahnung. Er weiß nicht, wozu du fähig bist, daher rechnet er nicht mit Spionen.
Aber du wusstest es, bemerkte sie.
Ich hatte den Verdacht, dass deine Fähigkeiten sich unter den richtigen Umständen entwickeln würden. Was hat dich dazu bewogen zu lernen, wie du deinen Geist verbergen kannst?
Das, was ich gehört habe, als ich das erste Mal, ähm, gelauscht habe.