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Er zeigte ihr weder die Götter noch ihr Wirken, ebenso wenig wie seinen eigenen »Tod« oder sein Leben als Leiard. Dies sollte ein Augenblick der Freude sein und nicht des noch einmal durchlebten Entsetzens oder des Schmerzes. Schließlich zog er sich aus ihrem Geist zurück, schlug die Augen auf und ließ ihre Hand los. Ihre Lider öffneten sich flatternd, und sie starrte ihn an, dann senkte sie den Blick.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Oder was ich tun soll. Wie soll ich dich anreden?«

»Nenn mich einfach Mirar«, erwiderte er entschieden, beunruhigt von ihrem beinahe unterwürfigen Verhalten. »Ich bin ein Traumweber, kein Gott oder König, nicht einmal ein Vetter zweiten Grades des Neffen eines Prinzen. Ich habe meine Leute nie durch Gewalt geführt, sondern sie mit Erfahrung und Weisheit geleitet - obwohl ich gestehen muss, dass ich in letzterer Hinsicht nicht selten versagt habe. Sieh mich an.«

Sie gehorchte. Er hatte nicht erwartet, dass sie so überwältigt sein würde. Schließlich beugte er sich vor und griff abermals nach ihrer Hand.

»Du bist die Anführerin hier, Tintel. So habe ich die Dinge geregelt. Für jedes Traumweberhaus wird ein Traumweber ausgewählt, der die Menschen, die dort leben, leitet. Der Betreffende hat die Autorität in diesem Haus inne, und alle reisenden Traumweber sollten ihm gehorchen oder weiterziehen. Ich bin ein reisender Traumweber. Das heißt, du musst mich herumkommandieren, oder ich muss fortgehen.«

Ihre Mundwinkel zuckten, und er spürte ihre Erheiterung.

»Das könnte ein wenig schwierig sein«, sagte sie. »Und die anderen … sie werden dir mit großer Ehrfurcht begegnen. Sie werden dich verehren.«

»Dann müssen wir beide sie davon abbringen. Meine Sicherheit - unsere Sicherheit - fußt darauf, dass die Pentadrianer mich nicht für eine Bedrohung halten. Wenn man mir huldigt wie einem Gott, werden sie eine Gefahr in mir sehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Pentadrianer sind keine Zirkler, Mirar. Sie respektieren andere Religionen.«

»Nur deshalb, weil die Götter dieser Religionen nicht existieren. Die einzige Religion, die sie nicht respektieren, ist die der Zirkler, deren Götter sehr wohl existieren.«

Tintel runzelte die Stirn, und er spürte ihre wachsende Furcht. Er drückte ihre Hand.

»Ich wollte nie angebetet werden, und ich will es immer noch nicht. Es wäre besser, wenn die Traumweber in mir eher einen Lehrer als einen Gott sähen. Ich denke, mit vereinten Kräften könnten wir das zuwege bringen.«

Sie sah ihn an und nickte. »Ich werde es versuchen.«

»Das weiß ich.« Er grinste. »Dies ist ein wenig so, als kündigte man eine Verlobung an, nicht wahr? Wem sollen wir es als Erstes erzählen?«

Tintel schnaubte leise. »Wenn du nicht angebetet werden willst, warum offenbarst du dann deine Identität?«

»Ich möchte wieder mit meinen Leuten vereint sein«, antwortete er ernst. »Und zwar als ich selbst.«

Sie nickte abermals, löste ihre Hände aus seinen und erhob sich. Dann wandte sie sich zur Tür um und holte tief Luft.

»Warte hier. Ich werde alle in der Halle zusammenrufen und dir Bescheid geben, wenn sie so weit sind.«

Er lächelte. »Danke, Tintel.«

Sie ging zur Tür, öffnete sie und hielt dann noch einmal inne, um zu ihm hinüberzublicken. Sie schüttelte staunend den Kopf und verließ dann, ohne noch ein Wort zu sagen, den Raum.

Mirar lächelte in sich hinein. Sobald sie ihre Überraschung und ihre Ehrfurcht überwunden hatten, würde es wieder ganz so sein wie in alten Zeiten. Er konnte durch Südithania reisen, so wie er früher durch den Norden gereist war, und er würde Traumweber kennenlernen, und sie würden ihr Wissen miteinander teilen.

Und vielleicht würde er diesmal nicht alles verpfuschen.

Reivan blies ihre Lampe aus, streckte sich auf ihrem Bett aus und dachte über den Tag nach, der soeben verstrichen war. Die Nachricht, dass der Hohe Häuptling von Dekkar plötzlich an einem Fieber gestorben war, hatte sich wie ein Lauffeuer im Sanktuarium verbreitet und Götterdiener, Botschafter und andere Würdenträger aufgeschreckt, als seien sie Blätter in einem Dutzend Wirbelwinde.

Eine der geringeren Stimmen sollte am nächsten Morgen nach Dekkar aufbrechen. Er oder sie würde die Begräbnisriten leiten und, sobald die offizielle Trauerzeit vorüber war, Prüfungen anberaumen, um einen neuen Hohen Häuptling auszuwählen. Die Prüfungen waren eine alte Tradition. Jeder Mann und jede Frau konnten daran teilnehmen, aber von einigen Ausnahmen abgesehen ging am Ende immer ein Mann aus der »königlichen« Blutlinie als Sieger hervor. Die Teilnehmer wurden geprüft, was ihre Stärke und ihre körperliche Tüchtigkeit betraf, aber sie mussten auch ihre Intelligenz, ihr Wissen, ihre Befähigung zum Anführer und ihre Hingabe an die Götter unter Beweis stellen. Reivan vermutete, dass Privilegien bei der Ausbildung und auf die Kandidaten der »königlichen« Blutlinie zurechtgeschnittene Prüfungen das voraussehbare Ergebnis erklärten.

Eine Flut wichtiger Persönlichkeiten und solcher, die sich lediglich für wichtige Persönlichkeiten hielten, war ins Sanktuarium gekommen, um zu fragen, ob sie mit der Stimme nach Süden reisen könnten. All das hatte Imenja und Reivan bis spät in die Nacht aufgehalten. Und zu spät, hatte Reivan sich gesagt, als dass eine gewisse Erste Stimme noch nächtliche Besuche unternehmen konnte. Und außerdem hatte er wahrscheinlich noch mehr zu tun als Imenja.

Vielleicht wird er mich morgen Nacht besuchen, dachte sie.

Vielleicht hatte er auch seine Neugier befriedigt und keine Absicht zurückzukehren. Wenn es ihm nichts bedeutet hat, wird er mich kein zweites Mal besuchen. Und ein zweiter Besuch bedeutete nicht, dass er ein drittes oder viertes Mal kommen würde und so weiter. Es bedeutete nicht, dass er sie liebte.

Verflucht! Ich habe schon wieder angefangen, an ihn zu denken. Wenn das so weitergeht, werde ich überhaupt keinen Schlaf bekommen.

Sie rollte sich auf die Seite und stellte fest, dass sie mit ihrem rastlosen Hin und Her das Bettzeug verheddert hatte. Als sie sich daranmachte, sich aus dem Laken zu schälen, hörte sie ein leises Klopfen aus dem Nebenzimmer.

Von der Haupttür zu ihren Wohnräumen.

Plötzlich war es viel schwieriger als zuvor, sich zu befreien. Als sie sich endlich des Lakens entledigt hatte, streifte sie hastig ihre Roben über und eilte aus dem Schlafzimmer.

Nachdem sie endlich an der Tür angelangt war, zögerte sie jedoch. Sie hatte kein zweites Klopfen gehört. Wenn es Nekaun war, hätte er gewiss aus ihren Gedanken gelesen, dass sie ihm die Tür öffnen würde. Gewiss wäre er nicht einfach fortgegangen, nur weil sie nicht schnell genug reagiert hatte.

Wenn es nicht Nekaun oder eine der anderen Stimmen war, hatte der Besucher vielleicht aufgegeben und sich wieder zurückgezogen.

Seufzend legte sie eine Hand auf den Griff und zog die Tür auf.

Nekaun lächelte sie an. Ihr Herz schlug einen Purzelbaum.

»Guten Abend, Reivan«, sagte er und trat ein. »Es war ein ereignisreicher Tag, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte sie.

Er ging an ihr vorbei und trat in die Mitte des Hauptraums. Dort drehte er sich zu ihr um und winkte sie heran.

»Ich habe eine ernste Frage an dich«, erklärte er.

Eine ernste Frage! Während er Platz nahm, versuchte sie erfolglos, nicht daran zu denken, was für eine Frage er ihr vielleicht stellen würde. Ging es um ihre Beziehung? Ging es um Imenja? Sie ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Er rieb sich die Hände, und in seinen Augen lag ein geistesabwesender Ausdruck.

»Die Götter haben mich heute Nacht besucht«, begann er.

Sie verspürte gleichzeitig Enttäuschung und ein erregendes Staunen. Hier ging es nicht um ihre Beziehung. Trotzdem, die Götter hatten zu ihm gesprochen, und er wollte es ihr erzählen.

»Sie sagten, die Denker würden nach einem alten Artefakt suchen, das den Namen ›Schriftrolle der Götter‹ trägt. Hast du davon schon einmal gehört?«