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Reivan runzelte die Stirn. »Nein. Ich weiß, dass es in Hannaya eine Gruppe von Denkern gibt, die nach Altertümern sucht und Studien darüber anstellt. Diese Schriftrolle scheint mir etwas von der Art zu sein, nach dem sie Ausschau halten.«

Nekaun nickte. »Die Sorge der Götter ist folgende: Wenn diese Denker die Schriftrolle fänden - sofern sie noch existiert -, könnten sie sie womöglich aus der Sicherheit ihres Verstecks holen oder sie sogar beschädigen. Sie wollen, dass ich das verhindere.«

Sie verzog das Gesicht. »Wenn du den Denkern befiehlst, nicht länger danach zu suchen, wirst du sie damit wahrscheinlich nur ermutigen, erst recht weiterzumachen.«

»Dann sehe ich nur eine Möglichkeit. Ich werde einen Spion zu ihnen schicken.« Er sah sie an. »Gibt es jemanden, den du mir empfehlen würdest?«

Reivan wandte den Blick ab. »Ich kenne im Grunde nicht allzu viele Leute hier. Jedenfalls nicht gut genug, um jemanden vorzuschlagen.«

»Welche Art von Mensch sollte ich denn deiner Meinung nach mit der Aufgabe betrauen?«

Sie zögerte. Es kam ihr ein wenig wie Verrat vor, Nekaun zu helfen, die Menschen auszuspionieren, zu denen sie selbst einmal gehört hatte. Dann kam ihr ein anderer Gedanke, und sie runzelte die Stirn.

»Warum brauchen die Götter einen Spion? Könnten sie die Denker nicht selbst beobachten?«

Er lachte leise. »Die Götter können nicht überall gleichzeitig sein, Reivan, und sie würden es auch nicht wollen. Das ist die Art von Aufgabe, die man am besten einem Sterblichen überlässt.«

»Ah.« Es gab kein Entrinnen aus dieser Angelegenheit. Aber wie viel Treue schulde ich den Denkern überhaupt?, fragte sie sich. Sie haben mich nie akzeptiert. Ich habe nie wirklich dazugehört. Meine Treue gilt jetzt den Göttern. Und Nekaun.

»Dein Spion wird intelligent sein müssen«, erklärte sie. »Und er sollte nur geringe oder gar keine Befähigungen zeigen, da die meisten Denker selbst keine derartigen Talente besitzen und jene, die es tun, mit Neid betrachten. Außerdem müsste er fest in seinen Überzeugungen sein.«

»›Er‹? Warum keine ›Sie‹?«

»Die meisten Denker sind Männer. Weibliche Denker werden nicht beachtet.«

»Für einen Spion wäre es von Nutzen, nicht beachtet zu werden.«

»Außerdem werden Frauen von wichtigen Arbeiten ausgeschlossen.«

»Ah.«

»Warum fragst du nicht deinen Gefährten, Turaan?«

»Das habe ich getan.« Er lächelte. »Je mehr Rat, umso besser. Außerdem hat mir das Problem einen guten Vorwand geliefert, um dich zu besuchen.«

Ihr Herz begann zu rasen. Sie sah auf und begegnete seinem Blick. »Du brauchst keinen Vorwand, Nekaun.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Alt oder jung?«

Sie runzelte die Stirn, dann begriff sie, dass er wieder von dem Spion sprach. »Ich bin mir nicht sicher. Ein junger Denker könnte einen Platz unter den Forschern erringen, indem er sich bereiterklärt, langweilige Arbeiten zu übernehmen. Ein alter Denker würde etwas Wertvolles anbieten müssen. Vielleicht nützliche Sachkenntnisse. Etwas, das die anderen dazu bewegen würde, ihn in ihren Kreis einzulassen.«

»Welche Nationalität?«

»Das spielt wahrscheinlich keine Rolle. Wenn er nützliche Informationen bringt, sollte es einen guten Grund geben, warum sie auf diese Informationen noch nicht gestoßen sind. Sie hüten ihr Wissen mit großer Eifersucht und begegnen bequemen Zufällen mit Argwohn. Einige von ihnen sehen überall Verschwörungen.«

»Was ist, wenn dieser Spion aus dem Norden käme? Würden sie dann erst recht Verdacht schöpfen?«

»Nein. Die meisten Denker hegen im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen keinen Groll gegen andere Völker. Wissen ist überall zu finden, ungeachtet des Landstrichs oder der Rasse. Stattdessen blicken die Denker auf jene herab, die weniger intelligent sind als sie. Sie sagen gern: ›Weisheit und Wissen sind überall, Dummheit auch.‹«

Nekaun kicherte. »Jeder braucht jemanden, den er verachten kann«, zitierte er.

… und jemanden, den er lieben kann, beendete Reivan im Stillen seinen Satz.

Er stand auf, und sie folgte seinem Beispiel. Dann trat er näher an sie heran und zog sie an sich. Als seine Hand über ihre Hüften glitt, begann ihr Puls zu rasen … und eine Menge Gefühle, die sie bei seinem früheren Besuch kennengelernt hatte, stiegen in ihr auf.

»Macht dir mein Plan, die Gruppe auszuspionieren, zu der du früher gehört hast, etwas aus?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er lächelte, dann küsste er sie, und die Denker waren vergessen.

15

Als Auraya aus der Laube der Priester zurückkam, bemerkte sie Sprecherin Sirri, die zusammen mit einigen Kindern auf dem Boden saß und lachte. Die Siyee blickte zu ihr auf und winkte sie heran.

Als Auraya zu ihr ging, musste sie mehreren Kindern ausweichen, die plötzlich kreischend davonstürzten. Winzige Wurfgeschosse flogen hin und her. Zu Sirris Füßen stand ein großer Eimer voller Beeren. Ihr Mund war dunkelrot verfärbt von dem Saft - ebenso wie die Gesichter der Kinder.

Sirri sah auf Aurayas Kleider hinab und schlug die Hand vor den Mund. Auraya folgte ihrem Blick und stellte fest, dass ihr weißer Zirk und ihre Tunika voller roter Flecken waren. Sirri stand abrupt auf und rief nach den Kindern.

»Das reicht jetzt!«, sagte sie energisch. Die Kinder blieben schlitternd stehen und scharten sich zusammen, den Blick auf den Boden geheftet. »Verschwendet sie nicht«, ermahnte Sirri sie, deren Stimme jetzt wieder sanft klang. »Nehmt euch jeder eine Handvoll Beeren und dann fort mit euch.«

Die Kinder gehorchten, und als sie zwanzig Schritte von Sirri entfernt waren, rannten sie los. Die Anführerin der Siyee sah Auraya an und seufzte.

»Es tut mir leid.«

Auraya nahm achselzuckend neben der Frau Platz. »Ich habe einen Ersatz.«

»Jetzt nicht mehr. Das wird nie rausgehen.«

Auraya untersuchte die Flecken und zuckte abermals die Achseln. »Wenn Magie keine Wirkung zeigt, werde ich mir einfach neue Kleider bestellen müssen - und ich bin davon überzeugt, dass die Priester hier einige Zirks zum Wechseln haben. Wie ist deine Zusammenkunft mit den Stammesführern verlaufen?«

Sirri schnitt eine Grimasse. »Nicht gut. Wer hätte gedacht, dass der Handel mit den Landgehern einige von uns so habgierig machen würde.«

Auraya sagte nichts. Die Schwierigkeiten, die die Siyee in der Vergangenheit bewältigen mussten, hatten sie dazu gezwungen, füreinander zu sorgen oder umzukommen. Das Land, das die Torener ihnen zurückgegeben hatten, war auf eine Weise kultiviert worden, wie die Siyee es nicht zu tun vermocht hätten, weil sie nicht zahlreich genug waren und auch nicht das erforderliche Wissen besaßen. Jetzt stritten sie um den plötzlichen und ungleichmäßig verteilten Reichtum. Es waren nicht die Landgeher, die in die Köpfe einiger von ihnen die Habgier eingepflanzt hatten.

»Ich habe mich gefragt, ob wir uns in dieser Angelegenheit mit den Göttern beraten sollten«, fuhr Sirri fort. »Wir könnten die Entscheidung ihnen überlassen.«

»Ihr solltet das besser unter euch regeln«, erwiderte Auraya.

Sirri zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«

Auraya runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass sie keine Antwort geben konnte, die Sirri akzeptieren würde. Ist mein Misstrauen gegen die Götter inzwischen so groß, dass ich anderen den Rat gebe, sich lieber von ihnen fernzuhalten? Ich klinge langsam wie eine Wilde.

»Die Götter würden von euch erwarten, dass ihr alles in euren Kräften Stehende tut, bevor ihr euch mit euren Problemen an sie wendet«, entgegnete sie und sah Sirri an. »Aber ich vermute, das hast du bereits getan.«

Sirri lächelte. »Ja. Trotzdem hast du vielleicht recht. Vielleicht sollten wir uns mehr Mühe geben. Hier, nimm dir ein paar Beeren. Sie sind gerade reif geworden.«