Jetzt flüsterte sie ihm etwas ins Ohr und sandte ihm ein geistiges Abbild von Wasser. Seine Nase zuckte, und als sie ihn auf den Boden setzte, trottete er davon. Sie folgte ihm.
Das Sonnenlicht brannte gnadenlos auf das Land herab und wurde von den Felsen zurückgeworfen, so dass die Hitze aus allen Richtungen kam. Nach einigen Biegungen wurde ihr klar, dass Teel ihr folgte, und sie schickte sich in die unausweichliche Erkenntnis, dass der Priester ihr nicht mehr von der Seite weichen würde.
»Was glaubst du, wie alt dieser Ort ist?«, fragte er nach einer Weile.
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung.«
»Sieh mal.« Er ging zu einem großen Stein in einer Mauer hinüber und deutete auf einige Markierungen. »Kannst du das lesen?«
»Nein.«
»Du beherrschst viele Sprachen, nicht wahr?«
»Ja. Aber das heißt nicht, dass ich sie lesen kann.«
»Ich sollte eine Abschrift davon machen«, sagte er. »Wenn die Priester im Offenen Dorf sie nicht entziffern können, kennen sie vielleicht jemanden, der es kann.«
Als er ein Stück Leder aus einem Beutel zog, lächelte sie, aber ihre Erheiterung legte sich schnell. Er war im Herzen ein Gelehrter, kein Krieger. Sie würde es sich nicht leicht verzeihen können, wenn er bei diesem Angriff starb, obwohl sie sich nicht ganz sicher sein konnte, dass er nur ihretwegen hier war.
Unfug, den es nicht kümmerte, ob der Priester ihm folgte oder nicht, war verschwunden. Auraya lief um eine Ecke und kam zu einem großen Bogengang, der aussah, als sei er in massiven Fels gehauen worden. Ihre Schritte im Eingang hallten auf eine Weise wider, die auf einen großen Raum dahinter schließen ließ.
»Owaya?«
»Ich komme, Unfug«, erwiderte sie.
Als sie aus dem Sonnenlicht trat, passten sich ihre Augen langsam der Dunkelheit an. Ein kurzer Flur führte in eine große Halle. Am anderen Ende konnte man in der Finsternis gerade noch die Umrisse einer riesigen Gestalt ausmachen. Es war eine Statue. Ihre Größe ließ Auraya schaudern.
Sie zog Magie in sich hinein, schuf einen Lichtfunken und sandte ihn zur Decke empor. Dann ließ sie den Funken heller werden, und ein tiefes Staunen machte sich in ihr breit, als die Statue beleuchtet wurde. Sie hatte einen muskulösen, männlichen Körper, aber das Gesicht war eine flache Scheibe mit einem einzigen riesigen, lidlosen Auge. Unfug blickte voller Staunen zu der Statue auf.
Einer der alten Götter, dachte sie. Lange tot.
Hinter sich hörte sie ein leises Keuchen, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Teel die Statue entsetzt anstarrte. Ein Ausdruck von Abscheu legte sich über seine Züge.
»Solche Dinge sollten zerstört werden«, sagte er.
Sie musterte ihn beunruhigt. Der Gott war lange tot. Welche Gefahr ging jetzt noch von der Statue aus? Etwas so Bemerkenswertes zu zerstören wäre hässlich und sinnlos.
»Vielleicht«, sagte sie langsam, »sollten solche Dinge erhalten werden, um uns an das Zeitalter der Vielen zu erinnern und an das Chaos, das die Sterblichen versklavte, bis der Zirkel uns rettete.«
Er sah sie ausdruckslos an, dann wurde er nachdenklich. »Wenn es der Wille der Götter war, diese Statue zu erhalten, könnte sie wahrscheinlich benutzt werden, um jene mit einem rebellischen Herzen zu erschrecken.«
Auraya unterdrückte einen Seufzer. Es gab bei jedem Volk Fanatiker, und es sah so aus, als hätten die Götter einen solchen unter den Siyee gefunden.
Das Summen von Gedanken am Rande ihrer Wahrnehmung wurde plötzlich lauter. Andere Siyee hatten Wasser gefunden - einen großen Teich, der tief in einer ähnlichen Halle wie dieser gelegen war. Sie ließ ihr Licht erlöschen und rief nach Unfug. Ein kleiner Schatten kam aus der Dunkelheit in ihre Arme gehüpft und kletterte auf ihre Schulter. Auraya trat an dem Priester vorbei ins Sonnenlicht.
»Lass uns sehen, wie es den anderen ergangen ist, ja?«, rief sie ihm über die Schulter zu.
Danjin erhob sich von seinem Platz, trat vor das schmale Fenster und blickte auf das bunte Treiben der dunwegischen Hauptstadt hinaus. Unter ihm beeilten sich Diener und Händler, vor der abendlichen Sperrstunde ihre Aufgaben zu erledigen, während die Krieger mit dem Selbstbewusstsein und der Arroganz von Männern umherliefen, die ihre Machtposition innerhalb der Gesellschaft als ihr natürliches Recht ansahen. Die steinernen Häuser, in denen sie lebten, waren in einem wohlgeordneten Muster zwischen Ringen hoher Mauern erbaut. Hinter der letzten Mauer konnte er den Dey sehen, den Fluss, der sich dem fernen Ozean entgegenschlängelte.
Chon war eine Festung, aber als die größte Festung in Dunwegen diente sie gleichzeitig auch als Verwaltungshauptstadt. Um dorthin zu gelangen, waren Danjin und Ella bis zur Mündung des Dey gesegelt, von wo aus eine Barkasse sie in die Festung gebracht hatte. Als sie Chon erreicht hatten, waren sie mit der typischen dunwegischen Förmlichkeit begrüßt worden - kurz und sachlich -, dann hatte man sie in die Quartiere geführt, die die Weißen bei ihren Besuchen stets bewohnten: in einen Flügel des innersten Teils der Festung.
Die Räume waren klein und die Wände aus nacktem Stein. Die Möbel waren schlicht und schwer, doch die Teppiche auf den Böden und an den Wänden waren farbenprächtig und exquisit gefertigt, wenn auch ein wenig grob, was das Muster betraf. Die meisten von ihnen bildeten berühmte Schlachten und dunwegische Anführer und Krieger ab, über die stets der Gott Lore wachte.
I-Portak, der Herrscher von Dunwegen, war weder ein König mit ererbtem Titel noch ein gewählter Berater. Danjin war noch nie jemandem begegnet, der all die vielschichtigen Regeln der dunwegischen Methode zur Auswahl des Herrschers durchschaut hätte. Es schien, als könne sich jeder zum Herrscher ausrufen lassen, aber um die Position zu halten, hing er von der Zustimmung wichtiger Kriegerclans ab. Der Anwärter konnte von einem Krieger herausgefordert werden, der bereit war, um die Position zu kämpfen, doch wenn der Herausforderer den Sieg davontrug und die Kriegerclans ihn nicht billigten, konnte er seine Position nicht halten.
Dennoch war die Wahl eines Nachfolgers nach dem Tod des letzten Herrschers frei von Herausforderungen oder Einwänden gewesen. I-Orms Sohn hatte den Platz seines Vaters eingenommen, ohne dass es auch nur das leiseste Murren von seinem Volk gegeben hätte. Zumindest hatte Danjin nichts Derartiges gehört. Die Dunweger neigten nicht dazu, sich laut zu beklagen. Wenn die wahrscheinliche Reaktion auf eine Rebellion eine Herausforderung auf Leben und Tod war, behielt man seine Meinung lieber für sich, es sei denn, man war sich des Sieges gewiss.
»Das Licht wird schlechter«, sagte Ella. Er drehte sich um und sah, wie sie seufzend ihre Spindel beiseitelegte. »Wieder ein Tag vergangen und immer noch keine Fortschritte. Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis sie mich meine Arbeit tun lassen?«
»Zieh ihren Respekt vor den Göttern und den Weißen von dem Ausmaß ihres Stolzes ab, füge ihre Erpichtheit, dass wir abreisen, hinzu und ergänze das Ganze um ein wenig schwelenden Groll auf die Weißen für ihren Versuch vor zehn Jahren, den Zauberer Scalar zu vernichten, und du erhältst den Augenblick, da sie ihre widerstrebende Mitarbeit anbieten werden.«
Ella kicherte kläglich. »Du hast mir erzählt, sie wären ein unkompliziertes, nüchtern denkendes Volk.«
»Verglichen mit anderen nordithanischen Völkern sind sie das auch. Du musst es den Clans überlassen zu versuchen, die Schuldigen für dich zu finden. Es ist eine Frage der Ehre.« Danjin trat von dem Fenster weg. Die Luft wurde jetzt schnell kühler. Die Dunweger glaubten, wärmende Feuer und Fensterbehänge würden die Menschen schwächen und Krankheit sei auf zu wenig Betätigung, zu wenig Essen oder zu wenig Sex zurückzuführen oder aber auf zu viel oder zu wenig Schlaf.