Hm. Vielleicht können wir das zu unserem Vorteil nutzen, überlegte er. Wir könnten sagen, dass Ella nicht zu lange im Haus eingesperrt und untätig bleiben wolle, weil sie fürchtete, sie könne dadurch erkranken. Aber sie könnten zu dem Schluss kommen, die beste Lösung für dieses Problem bestehe darin, sie zu einigen Übungskämpfen bei einem der weiblichen Kriegerclans zu schicken. Ich bezweifle, dass sie darüber glücklich wäre.
»Nun, zumindest mache ich in einer Hinsicht Fortschritte«, murmelte Ella und warf einen Blick auf den Korb an ihrer Seite. Der größte Teil des Vlieses war verschwunden, und der Faden, den sie gesponnen hatte, war zu Garn gedreht und zu ordentlichen Knäueln aufgewickelt worden. Danjin fand die geschickten Bewegungen ihrer Hände beinahe ein wenig hypnotisch. Er hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes mit dem Garn anfangen würde.
Tagsüber waren sie größtenteils sich selbst überlassen, aber jeden Abend bekamen sie Besuch von einheimischen Clanführern oder Würdenträgern anderer Länder. Ella nutzte die Gelegenheit, die Gedanken aller Menschen zu lesen, denen sie begegnete, einschließlich der Diener.
»Sie sind eher Sklaven als Diener«, hatte sie Danjin erklärt. »Alles, was sie für ihre Arbeit bekommen, ist Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Sie dürfen ohne die Zustimmung ihres Herrn weder heiraten noch eine Familie gründen, und ihre Kinder arbeiten von dem Zeitpunkt an, da sie von Nutzen sein können. Als ich mich während meiner Ausbildung zur Priesterin mit Dunwegen beschäftigt habe, hat mir niemand von diesen Dingen erzählt.«
Er musste ihr zustimmen, was das Leben der Diener betraf, aber er rief ihr ins Gedächtnis, dass die Dunweger so lebten, seit der Gott Lore sie zu seinem eigenen Volk erklärt hatte. »Und die Lebensbedingungen der Diener sind wohl kaum ein Thema, das die Aufmerksamkeit junger Akolythen erregen würde«, hatte er hinzugefügt.
Darauf hatte sie den Kopf geschüttelt. »Ungerechtigkeit erregt immer die Aufmerksamkeit junger Menschen«, hatte sie eingewandt. »Aber wenn wir älter werden, erfahren wir, wie schwierig es ist, die Welt zu verändern, und wir lernen, den Blick von Dingen abzuwenden, die wir nicht ändern können, bis wir Ungerechtigkeiten überhaupt nicht mehr wahrnehmen.«
»Das gilt nicht für uns alle«, hatte er erwidert. »Einige von uns halten immer noch nach Möglichkeiten Ausschau, die Dinge besser zu machen.«
Ella erhob sich und trat ans Fenster. »Der Mann, den wir heute Abend treffen werden, ist allenthalben bekannt für seine Grausamkeit gegen seine Diener.«
Sie blickte schweigend und mit zusammengezogenen Brauen hinaus. Er vermutete, dass sie die Gedanken der Menschen unten las, und sagte nichts, da er sie nicht ablenken wollte.
Es klopfte an der Tür.
»Gillen Schildarm, Botschafter von Hania, ist hier, um Ellareen von den Weißen und Danjin Speer, Ratgeber Ellareens der Weißen, abzuholen und in das Haus von Gim zu bringen, Talm von Rommel, Ka-Lem des Nimler-Clans«, brüllte jemand von draußen.
Danjin lächelte und ging zur Tür. Die Angewohnheit, hinter einer geschlossenen Tür einen Gruß zu brüllen, war typisch dunwegisch, aber der Mann auf der anderen Seite hatte hanianisch gesprochen. Er öffnete die Tür, und Gillen stand mit breitem Grinsen vor ihm.
»Du kannst einfach anklopfen«, sagte Danjin. »Wir würden deshalb nicht schlechter von dir denken.«
»Ah, aber das wäre nicht annähernd so spaßig«, antwortete der Botschafter. Er blickte über Danjins Schulter. »Guten Abend, Ellareen von den Weißen.«
»Guten Abend, Pa-Schildarm«, erwiderte sie. »Wir haben dich erwartet.«
Er deutete auf den Flur hinter ihm. »Es wäre mir eine große Ehre, dich zum Heim unseres Gastes zu führen.«
»Danke.«
Sie trat an Danjin vorbei. Danjin schloss die Tür und folgte ihr und Gillen den Flur hinunter.
Schon bald traten sie in die kühle Abendluft hinaus. Jeder Bezirk der Stadt wurde durch ein gut bewachtes Tor von den anderen getrennt. Wann immer sie ein solches Tor erreichten, zeigte Gillen ein Amulett vor, das die Wachen in Augenschein nahmen, bevor sie muskulösen Dienern den Befehl gaben, die Tore aufzuziehen. Nachdem sie durch drei solcher Tore gegangen waren, kamen sie zu einem steinernen Haus, das sich von seinen Nachbarn durch einen großen, in die Tür geschnitzten und mit leuchtenden Farben bemalten Schild unterschied.
»Das Haus von Gim, Talm von Rommel, Ka-Lem des Nimler-Clans«, erklärte Gillen. Er klopfte an, dann brüllte er ihre Namen und den Zweck ihres Besuches.
Die Tür öffnete sich knarrend. Ein Diener verbeugte sich vor ihnen, dann geleitete er sie schweigend in den Raum. Ella ging voraus, gefolgt von Danjin und Gillen.
Sie kamen in eine große Halle mit einem riesigen Holztisch, an dem sich bereits eine Schar von Männern, Frauen und Kindern zusammengefunden hatte. Wären da nicht ihre freundlichen Mienen und ihr Gelächter gewesen, hätten die tätowierten Gesichter wohl einen erschreckenden Anblick geboten. Die Muster verstärkten ihre Mimik, so dass ein Stirnrunzeln etwas Finsteres bekam und ein Lächeln zum Grinsen wurde.
Danjin erkannte einige der Anwesenden und vermutete, dass die meisten von ihnen zu Gims Clan gehörten. Der Diener eilte davon, um das Wort an einen massigen Dunweger am Kopfende des Tisches zu richten. Dies war Gim, und selbst nach dunwegischen Maßstäben war er ein stolzer und arroganter Mann.
Jetzt stand er auf und winkte sie mit weit ausladenden Gesten heran.
»Ellareen von den Weißen. Willkommen in meinem Heim. Nimm Platz an meinem Tisch.«
Gim gab den Menschen, die um ihn herum saßen, ein Zeichen. Sofort rutschten sie auf den Bänken zusammen, um Platz zu machen. Ella setzte sich mit würdevollen Bewegungen nieder und nahm einen Kelch Fwa entgegen, den einheimischen Schnaps. Danjin zwängte sich neben sie.
Danjin trank nur gerade so viel von seinem Kelch, um, wie er hoffte, seinen Gastgeber zufriedenzustellen. Er lauschte, während Ella und Gim sich unterhielten, und vergegenwärtigte sich Einzelheiten über den Clan, die er vor und nach ihrer Ankunft in Chon erfahren hatte. Außerdem beobachtete er die anderen Anwesenden am Tisch, wohlwissend, dass er für Ella ein zusätzliches Paar Augen bedeutete.
Auf ein Zeichen von Gim brachten einige Diener Teller mit Essen an den Tisch. Gim schnitt mit einem Messer, das wie ein Miniaturschwert geformt war, eine Keule von einem gerösteten Yern ab, dann begannen die anderen Gäste sich zu bedienen und munter draufloszuplappern. Zwischen zwei Jungen, von denen einer sich ein ganzes Girri genommen hatte, brach ein Streit aus. Als die Jungen einander anzurempeln begannen, stand einer der Männer auf, zerrte sie beide durch eine Tür hinaus und befahl einem Diener, sie nicht wieder hereinzulassen, bevor sie die Sache ausgetragen hätten. Dann kehrte er an den Tisch zurück und legte sich das Girri auf seinen eigenen Teller.
Plötzlich spürte Danjin Ellas Ellbogen an seinem Arm. Ihm wurde bewusst, dass er den Anschluss an ihr Gespräch mit Gim verloren hatte.
»… weiß, dass die pentadrianische Lebensart vielen deiner Leute gefällt«, sagte sie.
Gim zog die Augenbrauen hoch. »Was ist so reizvoll an der Art, wie sie leben?«
»Nur Verbrecher werden dort versklavt.«
Der Clanführer musterte sie stirnrunzelnd. Sie zuckte die Achseln.
»So sehen sie es jedenfalls.«
»Willst du damit sagen, dass wir möglicherweise Spione unter unseren Dienern haben?«
»Wahrscheinlich.«
Er funkelte die Diener im Raum an. »Ich werde sie alle befragen.«
Sie hob abschätzig die Hand. »Das würde deinen Haushalt nur unnötig in Aufruhr versetzen. Ein kluger Spion lenkt die Aufmerksamkeit von sich selbst auf andere, wenn er weiß, dass nach ihm gesucht wird, und am Ende würdest du womöglich unschuldige, nützliche Menschen hinrichten. Besser wäre es, eine Falle zu stellen.«
Gim stieß ein Knurren aus, mit dem er ihr widerstrebend recht gab. »Was schlägst du vor?«
»Wir können hier natürlich keine Einzelheiten erörtern«, sagte sie lächelnd. »Jemand, der deinen Haushalt gut kennt, könnte dir besser als ich raten, wie du eine wirkungsvolle Falle stellen kannst. Du musst doch einige Diener haben, denen du vertraust?«