Der Clanführer zog die Brauen zusammen, dann wechselte er das Thema. Während der Abend sich dahinzog, war Danjin überzeugt davon, dass er eine Veränderung bei Ella wahrnahm. Ihr Frohsinn wirkte aufrichtiger, als das normalerweise bei solchen Anlässen der Fall war.
Du hast recht, sagte eine vertraute Stimme in seinen Gedanken. Ich würde Gim niemals die Befriedigung gönnen, das zu erfahren, aber seine Angewohnheit, seine Diener schlecht zu behandeln, ist für uns von Vorteil. Viele Menschen hier sind den Pentadrianern zugeneigt, und es gibt mehr als einen unter ihnen, der zu dem Schluss gekommen ist, dass es an der Zeit sei zu fliehen. Morgen werden wir sehen, wer ihnen hilft.
Endlich ein Fortschritt, dachte er. Kein Wunder, dass sie glücklicher wirkt.
Gim rülpste laut, dann rief er nach einem Diener, um sich seinen Kelch wieder auffüllen zu lassen.
Ja. Und ich muss zugeben, dass ich Gim unterhaltsamer finde, als ich erwartet hatte. Er ist der Inbegriff des rohen Kriegers, als die man die Dunweger immer schildert. Er isst mit den Händen, spricht mit vollem Mund, reißt grobe Witze und trinkt zu viel. Was mag als Nächstes kommen?
Wahrscheinlich wird er die Tanzmädchen hereinrufen oder irgendein Frauenzimmer, an dem er sich zu schaffen machen kann.
Ich glaube nicht, dass er so weit gehen … oh.
Danjin lächelte, als zwei Männer hereinkamen, die Flöten und Trommeln spielten, gefolgt von vier dunwegischen Frauen. Sie trugen eine Menge Schmuck, aber nicht viel mehr.
Das beantwortet zumindest eine Frage, die mich beschäftigt hat, dachte Danjin trocken. Ihre Tätowierungen reichen tatsächlich bis ganz nach unten.
Diesmal brachte Ella es irgendwie fertig, mit ihrem Ellbogen seine Rippen zu treffen, und das mit erheblich mehr Kraft als zuvor.
17
Das rosige Licht der Morgendämmerung färbte bereits den Himmel hinter Reivans Fenster, als sie erwachte. Sie empfand eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Erleichterung, dass sie nicht abermals verschlafen hatte, und Enttäuschung darüber, dass sie keinen Grund dazu gehabt hatte.
Sie stand auf, ging zu der Wasserschüssel hinüber und wusch sich. Die Feuchtigkeit auf ihrer Haut war angenehm kühl, trocknete jedoch viel zu schnell. Schon bald würde sie in der Hitze eines weiteren Hochsommertages schwitzen, aber zumindest würde sie nach frischem Schweiß stinken und nicht nach schalem. Sie wünschte, das Gleiche ließe sich von den Händlern und Höflingen sagen, mit denen sie zu tun hatte.
Nachdem sie ihre Robe übergestreift hatte, verließ sie ihre Räume und ging in ihr Arbeitszimmer, wobei sie nur Halt machte, um einem Domestiken aufzutragen, ihr etwas zu essen zu bringen. Mehrere Götterdiener waren in der Nähe. Sie nickten Reivan im Vorbeigehen respektvoll zu.
Plötzlich löste sich eine ihrer Sandalen, und sie wäre um ein Haar gestolpert. Sie blieb stehen und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, während sie die Sandale in Augenschein nahm. Ein Riemen war von der Sohle abgerissen.
»… warum er sie gewählt hat. Sie ist nicht schön, nicht einmal hübsch«, sagte jemand.
Als ihr klar wurde, dass die Stimme einer der beiden Götterdienerinnen gehörte, an denen sie gerade vorbeigekommen war, blieb sie stehen, um zu lauschen.
»Sie soll angeblich klug sein. Eine ehemalige Denkerin, heißt es. Vielleicht spielen sie ja Gedankenspiele, während sie … du weißt schon.«
»Ich möchte nicht darüber nachdenken.«
Reivan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Die anderen Götterdiener hatten also von Nekauns nächtlichen Besuchen in ihren Räumen gehört. Waren diese beiden Frauen eifersüchtig?
»Soweit ich weiß, ist es schwer, seine Aufmerksamkeit zu halten. Er langweilt sich schnell.«
»Dann ist es klug von ihr, kein Aufhebens um diese Geschichte zu machen. Es wird demütigend genug sein, wenn er sie fallen lässt. Ich an ihrer Stelle würde nicht wollen, dass das ganze Sanktuarium Bescheid weiß.«
»Aber das ganze Sanktuarium weiß Bescheid.«
Reivan wurde flau im Magen. Sie zog die Sandale aus und ging weiter, da sie nicht länger den Wunsch hatte, das Gespräch der beiden Frauen zu belauschen. Aber mit nur einer Sandale konnte sie sich nur unbeholfen bewegen, daher blieb sie stehen, um auch die andere auszuziehen.
»… ihn lieber für eine Weile haben als niemals«, sagte eine der Götterdienerinnen.
»Ich auch.«
Diese Bemerkung hätte sie aufheitern sollen, aber sie tat es nicht. Stattdessen verstärkte sich das flaue Gefühl in ihrem Magen noch. Er besucht mich jetzt schon seit Monaten, überlegte sie. Wenn er es nur zu seiner Unterhaltung täte, hätte es ihn doch gewiss schon nach wenigen Nächten gelangweilt. Ich bin nicht gerade eine Göttin des Schlafzimmers.
Tage. Wochen. Monate. Jahre. Was spielte es für eine Rolle? Er war unsterblich, mächtig und schön. Sie wusste, dass sie nicht damit rechnen konnte, seine Aufmerksamkeit für immer zu fesseln, und doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass das Leben irgendwann einmal anders sein würde, als es jetzt war. Manchmal fiel es ihr schwer zu begreifen, wie sie früher hatte existieren können.
Ich bin noch nie so glücklich gewesen. Oder so ängstlich. Ich muss verliebt sein.
Die Sandalen in der Hand, setzte sie ihren Weg fort. Als der nächste Domestik ihr entgegenkam, hielt sie ihn an, gab ihm die Sandalen und bat ihn, ihr ein neues Paar bringen zu lassen. Er machte das Zeichen des Sterns und eilte davon.
Obwohl sie versuchte, ihre Gedanken auf die vor ihr liegende Arbeit zu lenken, kamen ihr die Worte der beiden Götterdienerinnen immer wieder in den Sinn.
»Er langweilt sich schnell.«
Vielleicht langweilte sie Nekaun bereits. Er hatte sie gestern Nacht nicht besucht, und am vorangegangenen Abend war sein Besuch sehr kurz ausgefallen.
Zu kurz, ging es ihr durch den Kopf. Er wirkte geistesabwesend und als sei nur sein Körper zugegen.
»Gefährtin Reivan.«
Sie blieb stehen und drehte sich um, überrascht, Imenja auf sich zukommen zu sehen.
»Zweite Stimme«, erwiderte sie und machte das Zeichen des Sterns.
Imenja lächelte. »Komm mit mir. Ich möchte dich etwas fragen.«
Sie waren nicht weit von Reivans Arbeitszimmer entfernt, aber Imenja ging zu einer Treppe hinüber und stieg die Stufen hinauf. Reivan folgte ihr, wobei ihr deutlich bewusst war, dass sie noch immer nackte Füße hatte.
Sie gingen in einen der Türme in den unteren Ebenen des Sanktuariums. Die Treppe führte durch ein Loch im Boden zu dem obersten Raum. Durch offene Bögen hatte man einen Blick in alle Richtungen.
Imenja ging zu der Seite hinüber, von der aus man die Stadt sehen konnte.
»Hier dürfte man uns nicht belauschen können«, murmelte sie, dann wandte sie sich zu Reivan um. »Nekaun ist heute Morgen in aller Frühe aufgebrochen.«
»Aufgebrochen?«, wiederholte Reivan. »Wohin?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Imenja. »Niemand weiß es. Ich hatte gehofft, dass du mir mehr sagen könntest.«
Reivan schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn seit vorletzter Nacht nicht mehr gesehen.«
Die Zweite Stimme lächelte und drehte sich wieder um, um die Aussicht zu betrachten.
»Nun denn. Er ist abgereist, und wir alle grübeln jetzt darüber nach, was dahintersteckt.«
»Die anderen Stimmen?«
Imenja nickte. »Sie sind genauso erstaunt wie ich.«
Reivan wandte den Blick ab. »Er war vorgestern Nacht ein wenig geistesabwesend.« Während sie das sagte, spürte sie, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. »Er hat mir nicht erzählt, dass er die Absicht hatte fortzugehen.« Sie war ein wenig verletzt. Er hätte ihr doch gewiss davon erzählen können. Wusste er nicht, dass er ihr vertrauen konnte?