Es war bereits dunkel draußen, als er und Tintel zum Traumweberhaus zurückgingen. Die Veranden und Brücken wurden von Lampen erhellt, was Kave in eine glitzernde, schwebende Stadt verwandelte. Tintel sagte nichts, und er spürte, dass sein Schweigen ihr nichts ausmachte. Sie war zufrieden.
Und ich? Er dachte nach. Ich bin nicht unglücklich. Mit einem Mal kam ihm Auraya in den Sinn, und ein leichter Stich der Traurigkeit durchzuckte ihn. Es hat keinen Sinn, zu betrauern, was hätte sein können. Außerdem habe ich ihr genug Kummer gemacht, einfach indem ich jemand zu sein schien, der ich nicht war, auch wenn das nicht meine Absicht war.
Jetzt war er wieder er selbst. Ganz und gar. Als sie das Traumweberhaus erreichten, trat er vor, um Tintel die Tür zu öffnen. Sie quittierte sein gutes Benehmen mit einem schiefen Lächeln.
»Danke. Es riecht so, als kämen wir gerade rechtzeitig zum Abendessen«, sagte sie.
Die Halle war erfüllt von Stimmen und Kochgerüchen. Bei seinem Eintreten verebbte der Lärm ein wenig, aber als er neben Tintel Platz nahm, nahmen die anderen im Raum ihre Gespräche wieder auf. Trotzdem spürte er die unterdrückte Erregung und die Nervosität der Traumweber. Ein besonders starkes Gefühl, eine Mischung aus Angst und Sehnsucht, lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Tisch. Sein Blick begegnete dem von Dardel. Er lächelte, und sie schaute hastig auf ihren Teller hinab.
Seit der Nacht, in der sie erfahren hatte, wer er war, hatte sie ihn nicht mehr in seinem Zimmer besucht, zu überwältigt von der Enthüllung, dass ihre Phantasie der Wirklichkeit entsprach, um auch nur mit ihm zu reden. Er hatte gezögert, ihr zu sagen, dass sie ihm nach wie vor willkommen sei, damit sie nicht glaubte, sie habe keine andere Wahl als seine Einladung anzunehmen. Dies war eine Schattenseite der Offenbarung seiner Identität, die Emerahl ungeheuer erheitert hatte.
Die Tür des Hauses wurde geöffnet, und eine Gruppe junger Traumweber trat ein. Wieder senkte sich Stille über den Raum, während die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge richteten.
»Ich habe Neuigkeiten«, erklärte einer der jungen Männer. »Die Prüfungen für den neuen Hohen Häuptling werden morgen beginnen.«
Sofort veränderte sich die Stimmung im Raum, und erwartungsvolle Spannung machte sich breit. Mirar hatte von dem Ritual zur Erwählung eines neuen Anführers gehört, einem Schauspiel, wie man es nur ein- oder zweimal im Leben beobachten konnte. Anscheinend wollten alle Dekkarener diese Prüfungen sehen. Jetzt schauten sämtliche Traumweber fragend zu Tintel hinüber.
Gut, dachte Mirar. Endlich wenden sie sich wieder an sie um Leitung.
»Ich würde nicht im Traum daran denken, irgendjemanden am Besuch der Prüfungen zu hindern«, sagte Tintel und verdrehte die Augen. »Aber ich würde es begrüßen, wenn einige von euch sich freiwillig meldeten und hierbleiben würden, für den Fall, dass unsere Dienste benötigt werden.«
Mehrere Traumweber nickten, und ein oder zwei erboten sich zu bleiben. Das Gespräch wandte sich der Frage möglicher Teilnehmer zu. Mirar hörte genau zu, fasziniert von dieser Methode, aus der Wahl eines Herrschers ein großes Spiel zu machen.
»Wirst du hingehen?«, fragte Tintel ihn leise.
Er lächelte. »Ja - es sei denn, du hättest morgen eine andere Verwendung für mich?«
»Nein«, erwiderte sie. »Ich kann nicht umhin, es irgendwie als deinen ersten öffentlichen Auftritt zu betrachten. Wie wird die Stimme, die den Prüfungen beiwohnt, wohl auf dich reagieren?«
»Ich bezweifle, dass er oder sie mich überhaupt wahrnehmen wird«, sagte er kichernd. »Ich habe nicht die Absicht, mich für den Anlass in festliche Gewänder zu hüllen oder mit vorgereckter Brust umherzustolzieren.«
Ihre Mundwinkel zuckten zu einem angedeuteten Lächeln. »Das glaube ich dir. Und ich muss zugeben, dass ich erleichtert bin, das zu hören. Die Ankündigung deiner Anwesenheit hier zu einer Zeit, da Dekkar ohne Führer war, hat einigen Leuten Grund zur Sorge gegeben.«
Mirar wurde schlagartig ernst. Daran hatte er nicht gedacht. So ist es immer. Man glaubt, alle möglichen Probleme einer Tat erwogen zu haben, übersieht aber dabei das Augenfälligste.
»Sie haben nichts zu befürchten«, erklärte er. »Nach allem, was ich gehört habe, müssen die Teilnehmer des Wettbewerbs siebenmal rund um Kave laufen. Ich bin ein wenig zu alt für…«
Jähes Schweigen senkte sich über den Tisch. Die Traumweber hatten sich der Haupttür zugewandt. Als Mirar ihrem Blick folgte, sah er am Ende der Halle einen Mann in einer prunkvollen Uniform stehen.
Der Mann räusperte sich. »Ist der Zauberer hier, den man als Mirar kennt?«
Alle Köpfe wandten sich Mirar zu. Er erhob sich. »Das bin ich.«
Der Mann kam auf den Tisch zu und verbeugte sich steif. »Ich bringe dir eine Einladung von der Vierten Stimme Genza, der Heiligen Dienerin der Fünf. Sie bittet dich, morgen bei den Häuptlingsprüfungen ihr Gast zu sein. Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du frei bist, die Einladung anzunehmen.«
Mirar spürte, wie sich ein Muskel in seinem Bauch verkrampfte. Ein Treffen mit einer der Stimmen. Ich hätte damit rechnen sollen. Er konnte bei dem Boten nichts als Nervosität und Neugier wahrnehmen.
»Es wird mir eine Ehre sein teilzunehmen«, antwortete er.
»Dann wird eine Stunde nach Sonnenaufgang ein Diener herkommen, um dich zu der Zeremonie zu geleiten.« Der Bote verbeugte sich abermals, dann verließ er den Raum. Es war vollkommen still im Saal, doch Mirar konnte gleichzeitig Erregung und Furcht von den anderen Traumwebern spüren.
18
Der Karawanenführer, Korikana - den Reisenden der Karawane als Kori bekannt -, war ein eher kleiner Mann. Eins seiner Beine war kürzer als das andere, daher humpelte er stark und mit ruckartigen Bewegungen. Er war auf seinem Arem mehr zu Hause als auf seinen eigenen Füßen und so sehr in das Geschöpf vernarrt, dass offenkundig war, dass er es ebenso als Gefährten wie als Lasttier betrachtete.
Während des Tages ritt Kori immer wieder an der Reihe der Karren und Plattans entlang und überzeugte sich davon, dass die Reisenden ebenso wie die Waren wohl versorgt waren. Vor zwei Tagen hatte er neben dem Plattan, in dem Emerahl sich einen Platz beschafft hatte, angehalten und auf eine dunkle Linie gedeutet, die am Horizont erschienen war.
»Hannaya!«, hatte er erklärt, bevor er weitergeritten war.
Jetzt erlebte sie eine Wiederholung der gleichen Szene. Diesmal lenkte Kori ihre Aufmerksamkeit jedoch auf das, wozu die dunkle Linie geworden war: ein hoher Felsgrat. Oder, um genauer zu sein, ein Teil der Felskette, die sich quer durch ganz Südithania zog.
Während der letzten Tage hatte sie nur gelegentlich einen Blick darauf werfen können, und auch jetzt konnte sie nicht viel sehen. Das Land, das sie durchreiste, war bedeckt mit seltsamen Bäumen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, und es schien nur einige wenige ähnliche Arten zu geben. Die größten Bäume bestanden entweder aus einem einzelnen oder aus mehreren Stämmen, die aus einer Wurzel wuchsen. Manchmal waren sie gerade, manchmal ineinander verschlungen. Ihre Borke konnte glatt oder rau sein, hell oder dunkel. Und alle Bäume waren insofern bemerkenswert, als sie keine Äste hatten. An der Spitze eines jeden Stammes befand sich ein Fächer breiter, sehniger Blätter in verschiedenen Farben. Einige trugen seltsame Früchte, die sich bei den Einheimischen großer Beliebtheit erfreuten. Ihr Fleisch war süß und schwer. Andere trugen aromatische Beeren, die man frisch oder getrocknet essen konnte. An einer kleineren Baumart wuchsen würzige Samen. Emerahl war klar, dass die Samen und Beeren sich vermutlich für die Herstellung von Heilmitteln eigneten.