Ist das eine Drohung? Huan lachte. Du kannst mir ebenso wenig Schaden zufügen, wie ich dir Schaden zufügen kann.
Mit diesen Worten zog sie sich zurück und bewegte sich mit großer Schnelligkeit auf die Stadt zu. Auraya seufzte vor Erleichterung.
Das ist der Punkt, in dem sie sich irrt, murmelte Chaia. Dann kicherte er. Hast du all das gehört, Auraya? Ich hoffe es.
Und dann war auch er fort, und sie konnte nur noch überrascht blinzeln. Er wusste, dass sie die Götter reden hören konnte. Hatte er Huan deshalb dazu ermutigt, mit ihm über den Hinterhalt zu sprechen?
Vielleicht wollte er mir nur zeigen, dass er nicht dafür verantwortlich war… dass Huan es war.
Dann drehte sich ihr mit einem Mal der Magen um, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Huan hatte die Siyee verraten. Sie hatte diese Mission nicht nur als Prüfung für Aurayas Ergebenheit arrangiert, sondern auch dafür gesorgt, dass sie fehlschlagen musste.
Dann fiel ihr Chaias Warnung wieder ein. Huan würde danach trachten, sie, Auraya, zu verletzen, indem sie jene verletzte, die sie liebte. Anscheinend war Huan tatsächlich bereit, dem Volk, das sie geschaffen hatte, Leid zuzufügen.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrem Arm.
»Wie kann ich helfen?«
Auraya drehte sich um und blinzelte den Siyee überrascht an, dann zwang sie sich, sich wieder dem Dilemma zuzuwenden, vor dem sie stand. Eines wurde ihr schlagartig bewusst. Wenn Huan den Siyee Leid zufügen wollte, um sie selbst, Auraya, zu treffen, dann war es besser, wenn sie ihre Freunde so weit wie möglich von hier fortschaffte.
»Kehrt in unser letztes Lager zurück«, sagte sie. »Ich werde mich dort in Kürze mit euch treffen. Ich werde etwas zu essen und Wasser für euch mitbringen. Ihr solltet einen Teil der Vorräte im Lager zurücklassen, ebenso wie an den übrigen Orten, an denen wir unterwegs Halt gemacht haben, falls es einigen der anderen gelingen sollte zu entkommen.«
»Du willst, dass wir nach Hause fliegen?«, fragte einer der Siyee zweifelnd.
»Ja.« Sie sah ihm in die Augen. »Das war eine Falle. Sie haben euch erwartet. Ich werde tun, was ich kann, um die anderen zu befreien. Ihr müsst dafür sorgen, dass sie auf der Heimreise überleben können.«
Die beiden Siyee nickten. Sie wussten, dass sie recht hatte, aber es widerstrebte ihnen, ihre Gefährten zurückzulassen.
»Geht«, ermahnte Auraya sie. »Seht zu, dass zumindest ihr beide eure Heimat erreicht. Sprecherin Sirri und die Familien der anderen Krieger sollten wissen, was hier geschehen ist.«
Die beiden neigten den Kopf zum Zeichen, dass sie einverstanden waren. Auraya beobachtete, wie sie davonflogen, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Stadt Klaff zu. Es gab dort etliche öffentliche Brunnen, und sie hatte am Stadtrand einen kleinen Markt bemerkt. Selbst wenn Nekaun die Gedanken der Siyee gelesen haben sollte, während sie ihnen ihre Anweisungen gab, bezweifelte sie, dass er rechtzeitig zum Markt würde gelangen können, um sie abzufangen.
Sie hob Unfug von ihren Schultern und setzte ihn auf den Boden.
»Bleib«, befahl sie.
Er ließ den Kopf hängen, ging aber gehorsam zu einem Fleckchen Schatten hinüber und rollte sich zusammen, um zu warten.
Solchermaßen zufriedengestellt, erhob sie sich in die Luft und ließ sich zurück in die Stadt gleiten.
20
Schwerer Regen und heftige Winde hatten Mirar während der Nacht mehrmals aus dem Schlaf gerissen, aber als er am Morgen erwachte, war alles still. Der Himmel war wolkenverhangen, aber an manchen Stellen konnte man blaue Flecken ausmachen. Trotz des Regens war es noch immer warm.
Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war, drang aus der Küche der Duft von frisch gebackenem Brot, und Tintel war bereits in der Halle, wo sie mit anmutigen Bewegungen Früchte aufschnitt und verzehrte. Sie sah zu ihm auf und nickte ihm grüßend zu. Als er nun ebenfalls Platz nahm, setzte das Trommeln des Regens plötzlich wieder ein.
»Kein schöner Tag für die Prüfungen«, sagte Tintel. »Ich hätte gedacht, die Götter würden das besser einrichten.«
»Das hängt vermutlich von der Interpretation des Wortes ›Prüfung‹ ab.«
Sie kicherte. »Ja, da hast du wahrscheinlich recht. Möchtest du, dass ich dich heute begleite?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein - aber danke für das Angebot.«
Sie nickte. Er konnte ihre Sorge spüren, obwohl er nicht wusste, ob sie um seine Sicherheit fürchtete oder um die Sicherheit aller Traumweber - oder beides. Wenn diese Begegnung zwischen ihm und der Vierten Stimme Genza misslang, würde das Auswirkungen auf die guten Beziehungen zwischen den südithanischen Traumwebern und den Pentadrianern haben?
Ich werde einfach dafür sorgen müssen, dass es nicht misslingt, sagte Mirar sich.
Vom Haupteingang erklang ein Klopfen. Tintel erhob sich, um die Tür zu öffnen, und kehrte mit einem Mann und einem vielleicht fünfzehnjährigen Jungen zurück. Beide trugen blaue und weiße Gewänder, auf die Bänder in den gleichen Farben aufgenäht waren, aber keiner der beiden wirkte so fröhlich wie ihre Aufmachung. Der ältere Mann stützte den Jungen, der auf einem Bein hüpfte, um das andere nicht zu belasten.
Tintel rief nach einem der Traumweber in der Küche, der sofort herbeikam, einen einzigen Blick auf das farbenprächtige Paar warf und sie davonführte. Tintel kehrte an ihren Platz zurück.
»Wir werden heute eine Menge gebrochener Knochen und verrenkter Knöchel zu sehen bekommen«, bemerkte sie.
Mirar sah sie fragend an.
»Nasse Plattformen können sehr rutschig sein«, erklärte sie. »Während eines aufregenden öffentlichen Ereignisses neigen die Leute - insbesondere junge Leute - dazu, ohne Rücksicht auf mögliche Gefahren umherzulaufen. Ah. Da kommt deine Begleiterin.«
Mirar drehte sich um und sah eine Frau in mittleren Jahren, die die Roben der Götterdiener trug, auf der Türschwelle stehen. Ihr Gesicht war gerötet, und sie schwitzte. Als Mirar sich erhob, blickte sie zu ihm hinüber.
»Du bist Mirar, der Begründer der Traumweber?«, fragte sie.
»Der bin ich«, antwortete er.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin Götterdienerin Minga. Ich soll dich zu deinem Treffen mit der Vierten Stimme Genza bringen.«
Mirar wandte sich zu Tintel um. »Viel Glück.«
»Dir auch«, erwiderte sie leise. »Wäge deine Schritte heute sehr genau.«
Er lächelte, überzeugt davon, dass sie nicht von nassen Plattformen sprach. Dann ging er zu der Götterdienerin hinüber, um sie zu begrüßen. Die Frau war eher klein, aber ihre Haltung war stolz. Sie war es gewohnt, dass man sie respektierte und ihr gehorchte, vermutete Mirar.
Er deutete auf die Tür. »Bitte, geh voran.«
Minga nickte Tintel kurz zu, bevor sie sich umdrehte. Diese kleine Geste des Respekts erstaunte Mirar. Eine zirklische Priesterin hätte etwas Derartiges niemals getan.
Ich könnte dieses Land wirklich lieben lernen.
Sie traten in den dichten, strömenden Regen hinaus, und Mirars Begeisterung erhielt einen jähen Dämpfer. Er zog ein wenig Magie in sich hinein und umgab sie beide mit einem Schild, was ihm ein dankbares Lächeln von seiner Führerin eintrug. Trotz des Regens schien es sich kaum abgekühlt zu haben, aber die oberen Bereiche Kaves glänzten von Feuchtigkeit und rochen nach nassem Holz.
Sie gingen langsam von einer Plattform zur nächsten. Viele Dekkarener saßen auf Stühlen unter ihren breiten Veranden und fächelten sich Luft zu. Als Mirar vorbeiging, nickten sie ihm lächelnd zu, was er als gutes Zeichen wertete. Wenn die Bewohner Dekkars ihn mochten, würden die Stimmen es vielleicht ebenfalls tun.
Nach einigen Minuten hörte er jedoch die Schritte mehrerer Menschen hinter sich, und ein Gefühl der Mutlosigkeit stieg in ihm auf, als er sich vorstellte, dass ihm eine Horde von Anhängern in die Halle der Häuptlinge folgte. Das würde bei der Stimme den Eindruck erwecken, als habe er großen Einfluss in der Stadt - was der Götterdienerin wohl kaum gefallen würde.