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Er blieb stehen und blickte über die Schulter, dann musste er sich ein Lachen verkneifen. Die Gruppe, die ihm folgte, waren Kinder, deren Augen groß vor Neugier waren. Sie grinsten ihn an.

»Hallo«, sagte er. »Warum folgt ihr mir?«

»Wir mögen dich«, erwiderte ein Junge.

»Du hast Pinpin geheilt«, ergänzte ein Mädchen.

»Und Mimi.«

»Und Doridoris Mutter.«

»Gehst du zu den Häuptlingsprüfungen?«

Er nickte.

»Da wollen wir auch hin!« Die Kinder brachen in fröhliches Gelärme aus, dann rannten sie davon. Mirar drehte sich lächelnd zu der Götterdienerin um, die ihn neugierig musterte. Er zuckte die Achseln, und sie setzten ihren Weg fort.

Als sie eine Brücke überquerten, nahm Mirar eine Bewegung unter sich wahr und blickte hinab. Auf dem Boden unter den Plattformen waren zu beiden Seiten eines Baches winzige Unterstände errichtet worden. Der Geruch von Abfall und Exkrementen stieg ihm in die Nase. Hier lebten die ärmeren Bewohner Kaves und sammelten ein, was die Wohlhabenden wegwarfen. Jene, die sich über den Gestank von unten beklagten - doch wenn die Armen den Abfall nicht auflesen und die Bäche sauber halten würden, hätte die ganze Stadt noch viel schlimmer gerochen.

Tintel hatte Mirar erzählt, dass die Armen, wenn die Fluten kamen, die Wände ihrer Hütten zusammenbanden, um Flöße daraus zu bauen. Diese befestigten sie an Bäumen oder Plattformen, damit sie nicht ins Meer gespült wurden. Die Pentadrianer hatten im vergangenen Jahr drei reiche junge Männer zur Sklaverei verdammt, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, mehrere Flöße loszubinden. Einige der Familien waren von Schiffen gerettet worden und hatten die Männer identifiziert, aber die meisten Menschen hatte man niemals gefunden.

Je näher sie der Halle der Häuptlinge kamen, umso mehr Gedränge herrschte auf den Veranden von Kave. Alle Menschen trugen leuchtend bunte, mit Bändern oder Blumen geschmückte Gewänder. Weitere Blüten zierten die Häuser und Plattformen, die von Feuchtigkeit glänzten, sofern sie nicht vor dem Regen geschützt waren.

Obwohl es plötzlich aufhörte zu regnen, tropfte das Wasser weiterhin von den Dächern. Manchmal war das Gedränge so groß, dass die Götterdienerin sich räuspern oder die Menschen herablassend auffordern musste, beiseitezutreten. Endlich kam die Halle der Häuptlinge in Sicht. Ebenso wie das Sanktuarium von Kave war sie aus Stein gebaut. Es war eine gedrungene dreistufige Pyramide, die sich aus dem schlammigen Boden erhob. Die Seiten sahen aus wie überdimensionierte Treppen. Im Zentrum des Gebäudes war ein Abschnitt mit einer normal dimensionierten Treppe versehen, die bis zur höchsten Stufe führte. Ein Besucher musste buchstäblich die Wände hinaufsteigen, um dorthin zu gelangen.

Auf der ersten Stufe war ein Pavillon errichtet worden. Darunter saßen mehrere Männer und einige Frauen auf Stühlen mit Binsengeflecht. Einige Diener führten ihnen mit großen Fächern Luft zu. Ihre Bemühungen galten vor allem einer dunkelhäutigen Frau in schwarzen Roben, die auf einem ebenfalls mit Binsengeflecht bezogenen Sofa in der Mitte des Pavillons saß.

Mirars Führerin geleitete ihn über die Brücke. An einem der Eckpfeiler des Pavillons machte sie Halt, und er blieb neben ihr stehen. Die dunkelhäutige Frau sprach mit einem ihrer Begleiter. Dann blickte sie zu Mirar auf und lächelte, erhob sich und kam ihnen entgegen.

Sie ist sehr groß, fiel ihm auf. Und sie bewegt sich mit der Anmut eines Menschen, der körperlich stark ist. Aber sie ist eher hager als muskulös, und ihr Gesicht ist schön.

»Ich bin Genza, die Vierte Stimme der Götter«, sagte sie auf Dekkarenisch. »Du bist Mirar, der unsterbliche Anführer der Traumweber?«

»Der bin ich«, antwortete er. Ein leichter Schauder überlief ihn, denn es war ungewohnt, nach all den Jahren, in denen er sich versteckt hatte, zu seiner Identität zu stehen. »Obwohl ich nur ihr Begründer und Lehrer bin, nicht ihr Anführer«, fügte er hinzu.

Genza nickte Minga zu, die sich daraufhin entfernte. »Bitte, setz dich zu mir«, sagte sie und deutete auf das Sofa.

Er nahm neben ihr Platz, wobei er sich bewusst war, dass das wahrscheinlich eine große Ehre war. Genza machte ihn mit den anderen Männern und Frauen bekannt. Die meisten waren Patriarchen und Matriarchinnen der wohlhabenderen Familien Kaves - einige von ihnen hatte Mirar bereits bei seiner Arbeit als Heiler kennengelernt. Außerdem gehörten zu der Gruppe die einheimischen Ergebenen Götterdiener, Kriegsführer sowie Botschafter aus Avven und Mur.

»Und hier sind unsere Kandidaten.«

Alle wandten sich dem vorderen Teil des Pavillons zu. Vier Männer und eine Frau in farbenprächtiger Kleidung standen vor ihnen. Alle zeichneten vor Genza einen Stern in die Luft. Die Stimme erhob sich und begrüßte jeden Einzelnen und wünschte ihm Glück.

Der erste Kandidat war ein Mann von Ende dreißig, in dessen Haar sich die ersten grauen Strähnen zeigten. Er machte einen starken, gesunden Eindruck, und sein Blick war intelligent und scharf.

Als Nächstes kam ein jüngerer Mann mit breiten Schultern und dem muskulösen Körper gut trainierter Jugend. Sein Blick wanderte immer wieder zu jemandem hinter Mirar hinüber, und er schien Mühe zu haben, nicht zu grinsen.

Neben ihm stand ein weiterer junger Mann. Dieser war dünn und ernst. Er verfügte nicht über die körperliche Stärke der beiden ersten Kandidaten, aber sein Gesicht war von Linien gezeichnet, die nicht zu seinem Alter passten und darauf hindeuteten, dass er viel Zeit damit verbracht hatte, nachzudenken - oder sich zu sorgen.

Die vierte Kandidatin war eine Frau von etwa Mitte dreißig. Sie hielt sich sehr aufrecht, und ihre Miene spiegelte unterdrückten Trotz wider. Der letzte Kandidat war ein Mann, den Mirar auf über fünfzig schätzte, mit drahtigem Körper und gütigem Gesicht. Seine Kleidung war ebenso bunt wie die der anderen, doch bei näherem Hinsehen konnte man feststellen, dass das Tuch von minderer Qualität war.

Auf ein Wort von Genza wandten die fünf Bewerber sich der Menge zu. Dann trat sie an ihnen vorbei in den Regen hinaus. Langsam breitete sich Stille über der Stadt aus.

»Heute werden sich diese Männer und Frauen körperlichen und magischen Prüfungen unterziehen«, sagte sie mit unnatürlich lauter Stimme. »Sie werden ihr Wissen, ihre Intelligenz und ihre Moral unter Beweis stellen müssen, und dann wird ihre Beliebtheit abgeschätzt. Sie müssen all diese Prüfungen bestehen, doch nur derjenige mit der höchsten Punktzahl wird gewinnen. Wünscht ihnen Glück!«

Die Menge brach in Beifallsrufe aus. Genza hob die Arme, und wieder kehrte Stille ein.

»Die erste Prüfung soll Aufschluss geben über die körperliche Stärke, die Ausdauer und die Beweglichkeit der Bewerber. Es ist ein Pfad angelegt worden, dem sie folgen müssen.« Genza hielt inne. »Mischt euch nicht in das Tun der Kandidaten ein«, warnte sie die Zuschauer. »Betrug oder Sabotage wird mit dem Tod bestraft.«

Sie ließ die Arme sinken und wandte sich wieder den Kandidaten zu.

»Seid ihr bereit?«

Die fünf Bewerber nickten.

Ein Lichtfunke erschien über Genzas Kopf.

»Die Häuptlingsprüfungen beginnen jetzt, rief sie.

Die Bewerber eilten davon, die Pyramide hinab, und wieder brach Jubel aus. Genza kehrte zu ihrem Platz zurück. Einen Moment später bemerkte Mirar einen der Bewerber, der unter den Häusern entlanglief. Bunte Pfosten waren in den Boden gerammt worden; zwischen ihnen waren Bänder gespannt, und schwarz gekleidete Götterdiener standen entlang der Strecke.

Genza wandte sich wieder Mirar zu. »Also, Mirar von den Traumwebern, wie lange bist du schon in Dekkar?«