»Unnötig«, sagte V., »unnötig! Seien Sie unbesorgt, er wird sich nicht töten; ich kenne die Herren Fälscher seit langem: Es sind Burschen, welche die größte Achtung vor ihrer eigenen Person haben. Immerzu, mein Freund, immerzu«, fuhr er fort, indem er die Arme verschränkte und es dem Unglücklichen freistellte, sich zu erstechen. »Genieren Sie sich nicht unsretwegen; tun Sie es, tun Sie es nur.«
Der Vicomte schien den falschen Kommis, der eine so seltsame Aufforderung ergehen ließ, Lügen strafen zu wollen, er stieß zu und stürzte, einen Schrei ausstoßend, nieder. Sein Hemd bedeckte sich mit Blut.
»Sie sehen«, sagte ich, indem ich auf den Vicomte zueilte, »der Unglückliche hat sich getötet.«
V. lachte.
»Getötet - der! Ach, er ist nicht so dumm. Öffnen Sie das Hemd, Doktor.«
»Doktor?« versetzte ich erstaunt.
»Natürlich«, sprach V., »ich kenne Sie, Sie sind der Doktor Fabien. Öffnen Sie das Hemd, und wenn Sie eine einzige Wunde finden, die mehr als vier oder fünf Linien Tiefe hat, verlange ich statt seiner guillotiniert zu werden.«
Ich war mir jedoch nicht so sicher wie V., denn der Unglückliche war wirklich ohnmächtig geworden.
Ich öffnete das Hemd und betrachtete die Wunde.
Es war wirklich nur, wie V. vorhergesagt hatte, ein Nadelstich.
Ich entfernte mich voll Ekel.
»Nun«, sagte V., »bin ich ein guter Psychologe, Herr Doktor? Vorwärts, vorwärts«, fuhr er fort, »legt diesem Burschen Handschellen an, sonst wird er auf dem ganzen Weg zappeln.«
»Nein, nein, meine Herren!« rief der Vicomte, den diese Drohung aus der Ohnmacht riß. »Nein, wenn man mich im Wagen fahren läßt, werde ich kein Wort sagen, keinen Versuch machen zu entweichen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«
»Hört ihr, meine Kinder, er gibt sein Ehrenwort; das ist beruhigend, wie? Was sagt ihr zu dem Ehrenwort des Herrn?«
Die zwei Agenten lachten und gingen mit den Handschellen auf den Vicomte zu.
Ich fühlte bei dieser Szene ein Mißbehagen, das ich nicht beschreiben kann, und wollte mich entfernen. »Nein! Nein!« rief er, indem er sich an meinen Arm klammerte.
»Nein, nein, gehen Sie nicht; wenn Sie gehen, werden diese Leute kein Mitleid mehr mit mir haben und mich wie einen Verbrecher durch die Straßen schleppen.«
»Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« fragte ich. »Ich habe keinen Einfluß auf diese Herren.«
»Doch, doch, Sie haben, Doktor, täuschen Sie sich nicht«, sagte er mit halber Stimme. »Ein ehrlicher Mann hat immer Einfluß auf diese Leute. Verlangen Sie, mich bis zur Polizei zu begleiten, und Sie werden sehen, daß sie mich in einem Wagen fahren lassen und nicht fesseln.«
Ein Gefühl tiefen Mitleids schnürte mir das Herz zusammen und trug den Sieg über die Verachtung davon.
»Herr V.«, sagte ich zu dem Anführer der Polizisten, »dieser Unglückliche bittet mich, zu seinen Gunsten zu vermitteln; er ist bekannt, man hat ihn in die Gesellschaft aufgenommen ... kurz, ich ersuche Sie, ersparen Sie ihm unnötige Demütigungen.«
»Herr Doktor Fabien«, erwiderte V. mit der größten Höflichkeit, »einem Mann wie Ihnen habe ich nichts abzuschlagen. Ich hörte, daß dieser Mensch Sie bat, ihn bis zur Polizei zu begleiten. Gut, wenn Sie einwilligen, steige ich mit Ihnen in den Wagen, und die Dinge gehen ganz sanft ab.«
»Doktor, ich flehe Sie an«, sprach der Vicomte.
»Gut, es sei«, sagte ich, »ich werde Ihrem Wunsch entsprechen. Herr V., haben Sie die Güte, einen Wagen holen zu lassen.«
»Und lassen Sie ihn vor die Tür fahren, die zur Rue du Helder geht«, rief der Vicomte.
V. gebot einem seiner Untergebenen, einen Wagen zu besorgen.
»Mittlerweile«, sprach V., »werde ich mit der Erlaubnis des Herrn Vicomte seinen Sekretär ein wenig durchsuchen.«
Der Vicomte machte eine Bewegung zum Sekretär hin.
»Oh, bemühen Sie sich nicht, Herr Vicomte«, sagte V., den Arm ausstreckend, »wenn sich einige Scheine darin finden, so wäre das nicht mehr und nicht weniger; wir haben schon wenigstens hundert, die aus Ihrer Fabrik hervorgegangen sind.«
Der Gefangene sank auf einen Stuhl nieder, und V. begann den Sekretär zu durchsuchen.
»Ich kenne diese Sekretäre, sie sind aus der Werkstatt Barthelemys. Betrachten wir zuerst die Schubladen und dann die Geheimfächer.«
Und er durchwühlte alle Schubladen, in denen sich außer dem erwähnten Portefeuille nichts fand als Briefe.
»Nun die Geheimfächer«, sagte er.
Der Vicomte erbleichte und errötete abwechselnd, während er V. mit den Augen folgte.
Ich bewunderte die Geschicklichkeit dieses Mannes. Es waren in dem Sekretär vier verschiedene Geheimfächer, und es entging ihm nicht nur keines davon, sondern er entdeckte den Mechanismus auf der Stelle, ohne erst suchen zu müssen.
»Hier ist der Rosentopf«, sagte er, indem er etwa hundert Banknoten von fünfhundert und tausend Franc zusammenpackte.
»Pest! Herr Vicomte, Sie sind nicht mit einer toten Hand zu Werk gegangen; vier Burschen wie Sie, und im Verlauf eines Jahres wäre die Bank gesprengt.«
Der Vicomte antwortete nur durch einen tiefen Seufzer und indem er den Kopf in den Händen verbarg.
In diesem Augenblick kam der von V. weggeschickte Polizist zurück.
»Meine Herren, der Wagen steht vor der Tür«, meldete er.
»Dann vorwärts«, sprach V.
»Aber Sie sehen«, unterbrach ich ihn, »der Herr ist im Schlafrock, und Sie können ihn so nicht mitnehmen.«
»Ja, ja«, rief der Vicomte, »ich muß mich ankleiden.«
»Kleiden Sie sich also an, und beeilen Sie sich. Ich hoffe, wir sind artig, wie? Es ist wahr, wir tun es nicht Ihretwegen, sondern dem Herrn Doktor zuliebe.«
Und er wandte sich zu mir und verbeugte sich.
Doch statt die ihm gegebene Erlaubnis zu benutzen, blieb der Vicomte unbeweglich auf seinem Stuhl sitzen.
»Nun, nun! Rühren wir uns ein wenig, und zwar rascher. Wir haben um neun Uhr einen anderen Herrn einzufangen, und des einen wegen darf der andere nicht verfehlt werden.«
Gabriel öffnete den Schrank, in dem seine Röcke hingen; doch er nahm fünf oder sechs herab, ohne sich zu einem zu entschließen.
»Mit der Erlaubnis des Herrn Vicomte werden wir ihm als Kammerdiener zur Seite stehen«, sagte V., und er machte den Polizisten ein Zeichen, worauf diese aus einer Kommode eine Weste und eine
Halsbinde nahmen, während er selbst im Schrank einen Oberrock wählte.
Dann begann die seltsamste Toilette, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Auf seinen Beinen wankend, ließ der Gefangene mit sich machen, was man wollte, und heftete nur erstaunte Blicke auf jeden von uns.
Man band ihm sein Halstuch um, man zog ihm seine Weste und seinen Rock an, als wäre er eine Gliederpuppe, dann setzte man ihm den Hut auf den Kopf und schob ihm ein Stöckchen mit goldenem Knopf in die Hand. Man hätte glauben sollen, er müßte niederfallen, wenn man ihn nicht stützte.
Die zwei Polizisten nahmen ihn jeder unter einer Achsel, und jetzt erst schien er zu erwachen.
»Nein, nein!« rief er, sich an meinen Arm klammernd. »Sie haben es mir versprochen, Doktor.«
»Ja«, versetzte ich, »kommen Sie.«
»Herr Vicomte«, sprach V., »ich sage Ihnen im voraus, wenn Sie eine Bewegung machen, um zu fliehen, zerschmettere ich Ihnen die Hirnschale.«
»Habe ich Ihnen nicht mein Ehrenwort gegeben, daß ich nicht entweichen werde?« sagte er, indem er seine Feigheit unter einem Gefühl ehrenhaften Anscheins zu verdecken suchte.