»Ja«, sagte ich. »Deprimierend, nicht wahr?«
Er lachte. »Übrigens, Mischa hat mir eine Telefonnummer gegeben, während Kropotkin nicht hinsah. Er möchte Ihnen was erzählen, ohne daß Kropotkin dabei ist.« Er holte einen zerknüllten Zettel hervor.
»Spricht der Taxifahrer englisch?« fragte ich.
Stephen sah nur leicht besorgt aus, und auch nur ganz kurz.
»Nein, nie. Dem können Sie erzählen, er stinkt wie ein Misthaufen, ohne daß er mit der Wimper zuckt.«
Ich versuchte es. Der Fahrer zuckte nicht mit der Wimper.
Da man kommen soll, wenn man erwartet wird, erschien ich pünktlich zum Mittagessen im Speisesaal des Hotel Intourist. Suppe, Blinis und Eiscreme mit Johannisbeergelee waren in Ordnung, aber das Fleisch mit der Beilage aus gehackten Karotten, gehacktem Salat und winzigen Kartoffelchips wanderte über den Tisch zu Frank.
»Sie werden verhungern«, sagte Mrs. Wilkinson ohne allzu große Besorgnis. »Mögen Sie kein Fleisch?«
»Ich produziere selber welches«, sagte ich. »Allerdings Rindfleisch. Auf einem Bauernhof. Deshalb bin ich wahrscheinlich auch so heikel, was das Zeug hier angeht.«
Mrs. Wilkinson musterte mich skeptisch. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie auf einem Bauernhof arbeiten.«
»Äh ... doch. Aber er gehört mir. Von meinem Vater geerbt.«
»Können Sie eine Kuh melken?« fragte Frank, eine Spur herausfordernd.
»Ja«, sagte ich sanft. »Melken, pflügen, was Sie wollen.«
Er warf mir über meine Kartoffelchips hinweg einen scharfen Blick zu, aber ich hatte die Wahrheit gesagt.
Die praktische Seite der Landwirtschaft hatte ich vom zweiten Lebensjahr an gelernt, und zwanzig Jahre später war ich mit dem technischen Wissen von der Hochschule abgegangen. Seither hatte ich mich unter staatlicher Förderung ein wenig mit der chemischen Wechselwirkung zwischen Boden und Nahrungsmittel beschäftigt und einige Hektar Versuchsfläche angelegt. Nach dem Rennsport war diese Tätigkeit mein Hauptinteresse gewesen ... und von jetzt an wohl mein einziges.
Mrs. Wilkinson sagte mißbilligend: »Sie halten doch nicht etwa Kälber in diesen schrecklichen Käfigen?«
»Nein.«
»Ich finde es immer ganz furchtbar, an die armen geschlachteten Tiere zu denken, wenn ich die Koteletts fürs Wochenende kaufe.«
»Wie waren denn die Ökonomischen Errungenschaften?«
»Wir haben eine Raumkapsel gesehen.« Sie stürzte sich in eine widerwillig bewundernde Schilderung der Ausstellung. »Schade, daß es so etwas bei uns nicht gibt. So eine Ausstellung, meine ich. Eine Dauerausstellung. Mit der wir zur Abwechslung mal unser eigenes Loblied singen.«
»Waren Sie auch dort?« fragte ich Frank.
»Nein.« Er schüttelte mampfend den Kopf. »Kenne sie allerdings von früher.«
Er sagte nicht, wo er statt dessen gewesen war. Ich hatte nicht bemerkt, ob er Stephen und mir gefolgt war, aber möglich war es. Falls ja, was hatte er dann gesehen?
»Morgen fahren wir nach Zagorsk«, sagte Mrs. Wilkinson.
»Wo ist das?« fragte ich, sah Frank beim Kauen zu und konnte seinem Gesichtsausdruck absolut nichts entnehmen.
»Eine Menge Kirchen, glaube ich«, sagte sie vage. »Wir fahren mit dem Bus hin, mit Visum, weil es außerhalb von Moskau liegt.«
Ich warf ihr einen flüchtigen Seitenblick zu, da ich in ihrer Stimme leise Enttäuschung wahrzunehmen meinte. Sie war eine kleine Frau, solide, Ende fünfzig, mit dem wohlmeinenden Gesicht der meisten Engländer. Ebenso typisch war ihr Scharfsinn, der sich gelegentlich in wirkungsvoll direkten Bemerkungen äußerte. Je mehr ich von Mrs. Wilkinson kennenlernte, desto mehr respektierte ich sie.
Ihr gegenüber, neben Frank, saß Mr. Wilkinson und schwieg wie üblich. Offenbar machte er diese Reise nur seiner Frau zuliebe und wäre gern wieder zu Hause in seiner Kneipe und bei Manchester United gewesen.
»Viele Leute gehen heute abend ins Bolschoi theater«, fuhr Mrs. Wilkinson leicht bekümmert fort. »Aber Vater macht sich nichts aus Ballett. Nicht wahr, Vater?«
Vater schüttelte den Kopf.
»Er mag diese Dinger nicht, die die Männer tragen«, vertraute Mrs. Wilkinson mir mit gesenkter Stimme an. »Diese Trikots. Sie wissen schon, wo man hinten alle Muskeln sieht ... und dann das vorne.«
»Hosenbeutel«, sagte ich mit unbewegtem Gesicht.
»Wie?« Sie machte ein verlegenes Gesicht, als hätte ich ein für ihre Schamschwelle zu derbes Schimpfwort benutzt.
»So nennt man das. Diese Dinger, die die natürlichen Umrisse verhüllen.«
»Ach so.« Sie war erleichtert. »Ich finde jedenfalls, es wäre viel hübscher, wenn sie Hemden anhätten. Das wäre viel weniger aufdringlich. Und man könnte sich auf den Tanz konzentrieren.«
Mr. Wilkinson murmelte etwas, was wie »dämliches Herumgehopse« klang und stopfte sich den Mund mit Eiscreme voll.
Mrs. Wilkinson schaute drein, als hätte sie das schon öfter gehört, und fragte mich: »Haben Sie denn Ihre Pferde gesehen?«
Franks Konzentration auf das Essen erfuhr eine winzige Unterbrechung.
»Sie waren wunderbar«, erklärte ich und verbreitete mich zwei Minuten lang über die Trainingsleistungen und ihr Aussehen. Nichts in Franks Ausdruck verriet, daß er von der Lückenhaftigkeit meines Berichtes wußte, aber wenn man ihm etwas angemerkt hätte, wäre er wohl auch für seine Aufgabe ungeeignet gewesen.
Natascha näherte sich geschäftig, um mein Leben noch komplizierter zu machen.
»Wir haben Glück gehabt«, verkündete sie ernst. »Wir haben für morgen abend ein Billett für Sie bekommen. Im Bolschoitheater.«
Ich fing einen Blick voll spöttischen Mitgefühls von Mr. Wilkinson ein, während ich schwache Dankesworte murmelte.
»Für Pique Dame«, sagte Natascha mit fester Stimme.
»Ah ...« sagte ich.
»Das Bolschoitheater gefällt jedem«, sagte sie. »Es ist die beste Oper der Welt.«
»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Ich freue mich schon darauf.«
Sie sah zufrieden aus, und ich ergriff die Gelegenheit, ihr mitzuteilen, daß ich am Abend mit Freunden zum Essen verabredet sei. Behutsam versuchte sie herauszubekommen, wo genau ich hingehen wollte, da ich das aber zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht wußte, außer daß es irgendwo war, wo man etwas Anständiges zu essen bekam, hatte sie kein Glück.
»Und heute nachmittag«, kam ich ihr zuvor, »das Leninmuseum.«
Ihre Miene hellte sich auf. Endlich, dachte sie zweifellos, benahm ich mich wie ein braver Tourist.
»Hätten Sie was dagegen, wenn ich mitkomme?« fragte Frank und vertilgte den Rest meines Mittagessens. Sein
Gesicht wirkte vollkommen arglos, und ich konnte ihn nur bewundern. Wenn man durch die Beschattung eines Menschen dessen Verdacht erregen könnte, schloß man sich ihm einfach unter einem Vorwand an.
»Im Gegenteil«, sagte ich. »Treffen wir uns in einer halben Stunde in der Halle.« Sobald er sich über seinen Nachtisch hermachte, verschwand ich und eilte zur glücklicherweise nahe gelegenen Post.
Rief die Botschaft an. Erreichte Oliver Waterman.
»Hier ist Randall Drew«, sagte ich.
»Von wo rufen Sie an?« unterbrach er.
»Vom Postamt.«
»Ah. Sehr gut. Sprechen Sie weiter.«
»Sind Fernschreiben für mich eingetroffen? Von Hughes-Beckett oder sonst jemand in London?«
»O ja«, sagte er zerstreut. »Ich glaube, da war was, mein Lieber. Bleiben Sie dran ...« Er legte den Hörer hin, und ich hörte Rascheln und seine fragende Stimme. »Da haben wir es«, meldete er sich wieder. »Haben Sie was zu schreiben?«
»Ja«, erklärte ich geduldig.
»Juri Iwanowitsch Chulitskij.«
»Buchstabieren Sie bitte.«
Das tat er.
»Das habe ich. Weiter.«
»Da ist nichts weiter.«