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»Was für einen Zettel?«

»Sie können doch nicht einfach etwas hier raustragen. Angeblich soll es Diebstähle verhindern, aber es ist nur diese Zwangsvorstellung, sie müßten alles wissen.«

Ich sah zu der Wand hinter seinem Kopf hinüber. Stephen lachte. »Wenn Sie nicht über das ganze, verdammte, repressive sowjetische System meckern, denken die, Sie verstellen sich.«

Von dem für die Studenten installierten Telefon auf dem Gang aus rief ich Juri Iwanowitsch Chulitskij an. Das Telefon sei sicher, sagte Stephen. Die einzigen angezapften Telefone seien in den Wohnungen bekannter Dissidenten, und Juri Chulitskij konnte kaum einer sein, sonst hätte man ihn nicht als Beobachter nach England geschickt.

Er meldete sich sofort.

»Ich sprechen mit Nikolai Alexandrowitsch«, sagte er. »Ich treffen Sie morgen.« »Vielen Dank.«

»Ich fahre Auto. Ich komme vor Hotel National, zehn Uhr, morgen früh. Ist gut?«

»Ist gut«, bestätigte ich. Wieder wurde der Hörer energisch aufgelegt, bevor ich fragen konnte, woran ich ihn oder sein Auto erkennen sollte. Das würde ich vermutlich wissen, wenn ich ihn sah.

Stephen versuchte die andere Nummer. Am anderen Ende der Leitung tutete es hohl, und nach zehnmaligem Klingeln wollten wir schon aufgeben. Dann hörte das Klingeln auf, und mit einemmal war eine atemlose Stimme am Apparat.

»Es ist Mischa«, sagte Stephen.

»Reden Sie mit ihm. Das ist einfacher.«

Stephen lauschte.

»Mischa möchte Sie noch mal sehen, aber es muß heute abend sein. Morgen muß er mit zwei Pferden nach Rostow fahren. Es ist Schnee angesagt, und die Pferde werden nach Süden verlegt. Nikolai Alexandrowitsch - das heißt, Mr. Kropotkin - fährt nächste Woche. Mischa hat es erst heute erfahren«, berichtete Stephen nach längerer Unterhaltung.

»Gut«, sagte ich. »Wann und wo?«

Stephen fragte nach. Er schrieb die Antwort auf, und die Wegbeschreibung nahm einige Zeit in Anspruch.

»Also, das ist meilenweit von der Innenstadt entfernt«, sagte er, legte langsam den Hörer auf und betrachtete das Geschriebene. »Es muß wohl ein Wohnblock sein. Er sagt, er wartet vor der Tür, und Sie sollen nicht Englisch sprechen, bevor er nicht sagt, es ist okay.«

»Kommen Sie denn nicht mit?« fragte ich.

»Sie brauchen mich eigentlich nicht. Mischa spricht etwas Englisch.« Er gab mir die Adresse, die in kyrillischer Schrift geschrieben war. »Zeigen Sie das einem Taxifahrer, der findet es dann schon. Ich sehe Sie später, im Aragvi.«

Durch die halboffene Tür zu seinem Zimmer konnte ich Gudrun einladend auf seinem Bett fläzen sehen. Erst zögerte ich, schließlich sagte ich: »Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mitkämen. Jemand hat heute morgen versucht, Mischa oder mich umzubringen. Vielleicht werden Sie lachen, aber wenn ich mich schon in die Wildnis begebe, um ihn zu treffen, dann wäre mir etwas Rückendeckung angenehm.«

Er lachte nicht. Verabschiedete sich von Gudrun und kam mit. Außerdem sagte er in seinem scherzhaft übertriebenen Akzent: »Wir haben Meeglichkeit, unser Ver-gniegen bis morgen zu verschieben.« Was Gutmütigkeit anbetraf, war er schwer zu überbieten.

»Es ist sehr schwer, einen guten Treffpunkt zu finden, wenn Sie ein ganz normaler Russe sind und mit einem Ausländer reden wollen«, sagte Stephen. »In Rußland gibt es keine Kneipen und keine diskreten kleinen Cafes. Und es gibt überall Beobachter, die alles weitermelden. Man muß schon ganz schön gute Beziehungen zur Obrigkeit haben, um sich in der Öffentlichkeit mit einem Ausländer sehen lassen zu können.«

Ohne groß warten zu müssen, winkten wir ein vorbeifahrendes Taxi heran.

»Daran herrscht jedenfalls kein Mangel«, sagte ich beim Einsteigen. Als Stephen den Mund aufmachte, unterbrach ich ihn: »Ja, ja, ich weiß. Taxis sind teuer, die Metro ist billig.«

»Und die Taxigebühren haben sich kürzlich praktisch verdoppelt.«

»Sagen Sie ihm, er soll am Intourist vorbeifahren, damit ich den Recorder auf mein Zimmer bringen kann«, bat ich.

»In Ordnung.«

Wir fuhren den Komsomolskiy-Prospekt hinunter, und ich sah zwei- oder dreimal aus dem Rückfenster. Ein mittelgroßer schwarzer Wagen folgte uns getreulich, aber schließlich war das hier eine Hauptstraße; ich konnte mich irren.

»Wenn wir zum Hotel kommen, steige ich aus und verabschiede mich deutlich sichtbar von Ihnen. Ich gehe dann ins Hotel, und Sie fahren mit dem Taxi um die Ecke und warten vor dem Hotel National auf mich. Ich bringe den Recorder auf mein Zimmer und komme dann dorthin.«

Stephen sah aus dem Rückfenster.

»Mal im Ernst, glauben Sie, man folgt Ihnen?«

»Mal im Ernst, fast dauernd«, sagte ich.

»Aber wer?«

»Würde Ihnen der KGB zusagen?«

»Wie kommen Sie darauf?« Trotz seiner Vertrautheit mit dem Überwachungsstaat war er erschüttert.

»Die Sphinx hat es mir gesagt.«

Das ließ ihn verstummen. Wir haben Meeglichkeit, Sie zum Schweigen zu bringen, dachte ich ironisch. Als wir vor dem Intourist ankamen, zogen wir unsere Nummer ab. Ich stand einige Zeit auf dem Bürgersteig und sprach durch das Taxifenster mit Stephen, wünschte ihm dann mit lauter Stimme gute Nacht und winkte, als ich durch die Glastür des Hotels ging; zweifellos reichlich übertrieben. Ich holte meinen Schlüssel, zog Mantel und Mütze aus, fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben, brachte den Recorder in mein Zimmer und ging ohne Hast, um nicht das Mißtrauen der alten Schachtel an ihrem Tisch zu erregen, wieder zum Fahrstuhl zurück und fuhr ins Erdgeschoß hinunter. Das Riesenhotel hatte mehrere Ausgänge, und ich wählte den entferntesten, zog unterwegs Mantel und

Mütze wieder an und schwebte in normalem Schrittempo wieder auf die Straße hinaus. Zweifellos bemerkten mich die müßig herumstehenden Beobachter, aber keiner folgte mir.

An der Ecke blieb ich stehen und warf einen Blick zurück. Niemand schien sich aus der Gruppe zu lösen und in nicht vorhandene Schaufenster zu starren. Ich ging weiter. Wenn meine Verfolger entschlossene Profis waren, dann waren meine amateurhaften Versuche, ihnen zu entwischen, sicherlich nutzlos gewesen. Andererseits hatten sie aber auch keinen Grund anzunehmen, daß ich von ihrer Existenz wußte oder den Versuch machte, ihnen zu entkommen, denn dafür hatte ich bislang keinerlei Anzeichen erkennen lassen; vielleicht dachten sie auch einfach, ich wäre immer noch irgendwo im Hotel.

Der Taxifahrer war aufgeregt und ärgerlich, weil er so lange an einer Stelle hatte warten müssen, wo er nicht hätte stehen dürfen. Stephen begrüßte mich mit einem erleichterten Seufzer. Mit einem Ruck fuhren wir los.

»Ihr Freund Frank hat gleich hinter Ihnen das Hotel betreten«, berichtete er. »Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein«, antwortete ich gelassen.

Er ließ das auf sich beruhen. »Der Fahrer sagt, die Temperatur fällt. Für November war es warm, sagt er.«

»Heute haben wir Dezember.«

»Er sagt, es wird schneien.«

Eine ganze Weile fuhren wir nordwärts, dann in nordöstlicher Richtung durch die gutbeleuchteten, fast leeren Straßen.

»Sagen Sie dem Fahrer, er soll anhalten«, sagte ich schließlich.

»Wieso?«

»Ich will sehen, ob man uns folgt.«

Kein Wagen blieb hinter uns stehen, und als wir weiterfuhren, wartete kein Wagen vor uns.

Ich bat Stephen, dem Fahrer zu sagen, er solle einen ziemlich großen Wohnblock umrunden. Der Fahrer hatte die Tour mittlerweile gründlich satt und begann leise vor sich hin zu murren.

»Er soll uns absetzen, bevor wir das Haus erreicht haben. Wir wollen doch nicht, daß er unser Ziel weitermeldet«, sagte ich.

Ein großes Trinkgeld zusätzlich besänftigte den Ärger des Fahrers, würde ihm aber vermutlich nicht den Mund verschließen.

Er brauste davon, zurück in hellere Gefilde, als wäre er froh, uns los zu sein. Weder schwarze noch andere Autos fuhren vorbei oder hielten. Soweit wir sehen konnten, waren wir völlig allein.