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Wir befanden uns zwischen großen Wohnblocks in einer neu erschlossenen Siedlung. Zu beiden Seiten standen, die Schmalseiten zur Straße, Reihen neuerbauter Wohnblocks, alle etwa zwölf Meter breit, neun Stockwerke hoch und mit Rauhputz versehen. Ihre vorderen und hinteren Fensterfronten verloren sich in der Dunkelheit.

»Die üblichen Behausungen«, meinte Stephen. »Eierkisten für die Massen. Sechs Quadratmeter pro Person. Die vorgeschriebene maximale Wohnfläche.«

Wir gingen den matschigen Bürgersteig entlang, die einzigen Menschen, die zu sehen waren. Der Block, an dem wir gerade vorbeikamen, war noch nicht fertig: die Wände standen schon, doch die Fenster waren leere Höhlen. Der dahinter war zwar unbewohnt, aber schon verglast. Der nächste wirkte eingerichtet, und der übernächste war bewohnt. Es war die angegebene Adresse.

Ein letzter Blick die Straße hinauf und hinunter zeigte, daß niemand das geringste Interesse an uns hatte. Wir bogen in die breite Lücke zwischen den beiden Blocks ein und stellten anhand der Nummern fest, daß wir den zweiten Eingang nehmen mußten. Wir gingen ohne Eile darauf zu und blieben ein paar Schritte davor stehen.

Wir warteten. Eine Minute verging. Dann noch eine. Kein Mischa. Die kalte, feuchte Nachtluft pfiff einem durch Mark und Bein. Wenn wir diese ganze Reise umsonst gemacht hatten, war das gar nicht komisch, dachte ich bei mir.

Eine leise Stimme sagte hinter uns: »Kommen, bitte.«

Kapitel 9

Überrascht drehten wir uns um. Wir hatten ihn nicht gehört, aber da stand er, in seinem Ledermantel und der Ledermütze, adrett und jung. Er machte eine kurze, ruckartige Kopfbewegung und drehte sich auf dem Absatz um. Wir folgten ihm auf die Straße hinaus und den Bürgersteig entlang in die Lücke zwischen den beiden nächsten Blocks. Er ging ohne Hast auf einen der Eingänge zu, und wir trotteten leise hinterher.

Die hell erleuchtete, warme Eingangshalle roch nach frischer Farbe. Es gab zwei Aufzüge, beide außer Betrieb, und eine Treppe. Mischa wandte sich zur Treppe. Wir folgten.

Ein Stockwerk höher gab es vier Türen, alle geschlossen. Mischa ging weiter die Treppe hinauf. Auf dem nächsten Treppenabsatz vier ebensolche Türen, wiederum alle geschlossen. Mischa stieg weiter hinauf. Im vierten Stock blieben wir stehen und verschnauften.

Zwischen dem fünften und dem sechsten Stock stießen wir auf zwei junge Männer, die einen Elektroherd nach oben schleppten. Der Herd war in mit Seilen befestigte Decken eingeschlagen. Ledergurte mit Tragegriffen erleichterten ihnen die Arbeit, dennoch schwitzten und keuchten sie vor Anstrengung. Um uns vorbeizulassen, setzten sie den Herd ab, der gefährlich auf einer Stufe kippelte. Mischa sagte etwas, das tröstend klang, und wir gingen in immer langsamerem Tempo weiter.

Bestimmt war es im neunten Stock, dachte ich. Oder unterm Dach.

Es war im neunten Stock. Mischa zog einen Schlüssel

hervor, schloß eine der nichtssagenden Türen auf und ließ uns ein.

Die Wohnung bestand aus Küche, Badezimmer und zwei winzigen Räumen und war fast unmöbliert. In der Küche gab es außer ein paar ziemlich trüben grünen Fliesen nicht viel - jedenfalls keinen Herd. Im Badezimmer das Allernotwendigste. Kahle Böden, kahle Fenster und kahle Wände in den beiden Zimmern, in einem zwei Holzstühle und ein Tisch, im anderen ein Bettgestell. Aber wie in allen Räumen in Moskau war es warm.

Mischa schloß die Tür hinter uns, und wir legten Mützen und Mäntel ab. Mischa machte eine weit ausholende, die ganze Wohnung einschließende Armbewegung, und Stephen übersetzte, was er sagte.

»Die Wohnung gehört seiner Schwester. Wenn die Wohnungen fertig sind, werden sie unter den Leuten auf der Liste ausgelost. Seine Schwester und ihr Mann haben den neunten Stock gezogen. Sie haßt die Wohnung und ist sehr deprimiert. Die beiden haben ein Baby. Solange die Aufzüge nicht funktionieren, muß sie das Baby und ihre Einkäufe jedesmal neun Treppen hochtragen. Der Herd für die Wohnung wird gestellt, aber man muß ihn selbst hochschaffen, wie die beiden eben. Die Möbel muß man zusammen mit Freunden hochtragen.«

»Warum funktionieren die Aufzüge nicht?« fragte ich.

Mischa sagte (via Stephen), der Hausmeister behaupte, die Innenverkleidung der Aufzüge würde beschädigt, wenn die Leute damit Herde und Möbel nach oben schafften, und deshalb würden die Aufzüge erst in Betrieb genommen, wenn alle Wohnungen eingerichtet und bewohnt seien. Ich fand das aberwitzig, aber es stimmte offenbar.

»Warum wird dann nicht eine zusätzliche, provisorische Innenverkleidung angebracht, die man später wieder entfernt?« fragte ich.

Mischa zuckte die Achseln. Es sei sinnlos, etwas zu sagen. Der Hausmeister höre nicht zu, und er habe nun mal zu bestimmen.

Mischa winkte uns, Platz zu nehmen, und hockte sich auf die Kante des einzigen Tisches. Er war dünn, aber kräftig, wirkte fit und nicht abgemagert. Die lebhaften blauen Augen betrachteten uns viel freundlicher als heute morgen und bestärkten mich in meinem Glauben an seine Intelligenz.

»Danke für Kommen«, sagte er. »Morgen ich weg. Ich noch was sagen.«

»Sagen Sie es auf russisch«, schlug ich vor. »Es ist einfacher für Sie, und Stephen kann übersetzen.«

Er nickte leicht bedauernd, sah es aber ein.

Er ließ einen Schwall von Worten los, wartete, bis Stephen gedolmetscht hatte, und nickte wieder, als er seine Worte auf englisch hörte.

»Nachdem wir weg waren«, übersetzte Stephen, »hatte Mr. Kropotkin noch mehr Besuch; Ihr Freund, der englische Journalist, Malcolm Herrick, und jemand, der sehr nach der Sphinx klingt. Sie kamen zusammen. Mr. Kropotkin ließ Mischa wiederholen, was er uns gerade erzählt hatte. Mischa glaubt, daß Mr. Kropotkin die Sphinx recht gut kennt.«

»Er heißt Ian. Ja, sie kennen sich«, bestätigte ich.

»Mr. Kropotkin meint, Sie brauchen Hilfe«, fuhr Stephen fort.

»Er ließ Mischa sein kleines Buch mit Telefonnummern holen und rief verschiedene Leute an, um zu fragen, ob sie etwas über Aljoscha wüßten, und wenn ja, es ihm zu sagen, damit er es Ihnen sagen kann. Boris Dimitriwitsch

Teljatnikow, ein Kandidat für das olympische Reiterteam, kam am Nachmittag, um sich die Pferde anzusehen, und Mr. Kropotkin hat ihn auch gefragt. Boris sagte, er wüßte nichts über Aljoscha, aber Mischa meint, Boris sei beunruhigt gewesen.«

»Ja. Weiter«, drängte ich.

»Praktisch jeder in Moskau, der irgendwas mit den olympischen Reiterspielen zu tun hat, scheint nach Aljoscha Ausschau zu halten.«

»Mein Gott«, sagte ich.

»Nikolai Alexandrowitsch hilft«, sagte Mischa. »Du retten Pferd. Jetzt Nikolai Alexandrowitsch hilft.«

»Sehr nett von ihm«, sagte ich wie betäubt.

Stephen hörte zu und berichtete. »Die Sphinx, Ian Young, sagte zu Mr. Kropotkin, sobald Sie Aljoscha gefunden und mit ihm gesprochen hätten, könnten Sie heimfahren. Mr. Kropotkin sagte: >Dann werden wir Aljoscha für ihn finden. Er hat unser bestes Pferd gerettet, da ist nichts zuviel<.«

»Mein Gott«, wiederholte ich.

»Die Version, die Mr. Kropotkin allen erzählt, lautet, das Pferd sei unerwartet vor den näher kommenden Transporter gelaufen. Der Fahrer hätte keine Zeit mehr gehabt, auszuweichen, aber Sie hätten das Pferd gerettet.«

»Glaubt Mischa das auch?« fragte ich.

»Njet.« Mischa hatte verstanden und hegte keine Zweifel.

»Fahrer kommt ... bumm.« Er schlug die geballte Faust unmißverständlich in die andere Handfläche.

»Kannten Sie ihn?« fragte ich.

»Njet. Nicht kennen.«

Es sei der Transporter gewesen, berichtete Mischa weiter, in dem er morgen mit zwei Pferden nach Rostow fahren würde. Als er den Braunen gestern zum Stall zurückführte, habe der Transporter am gewohnten Platz gestanden. Mr. Kropotkin hatte die Motorhaube angefaßt, um sich zu überzeugen, daß es dieser Wagen gewesen war, und richtig, der Motor war noch warm. Ein Fahrer war nicht zu ermitteln. Mr. K.’s Ansicht nach schämte sich der Fahrer seiner Unachtsamkeit und hatte Angst vor Strafe.