Vor dem Restaurant hatte sich eine kleine Schlange
frierender Menschen gebildet.
»Folgen Sie mir und sprechen Sie nicht, bevor wir drin sind«, sagte Malcolm. Er ging an der Schlange vorbei und öffnete die geschlossene Tür. Der mittlerweile schon bekannte Wortwechsel fand statt, und dann wurden wir unwillig eingelassen.
»Ich hatte bestellt«, erklärte Malcolm, während wir unsere Mäntel ablegten. »Ich komme oft her. Man sollte es nicht für möglich halten.«
Das Restaurant war voll, und von irgendwo kam Musik. Wir wurden zu dem einzigen freien Tisch geführt, und innerhalb von fünf Sekunden war bereits eine Flasche Wodka da.
»Von den zwei anständigen Restaurants in Moskau habe ich das hier lieber«, teilte uns Malcolm mit.
»Zwei?«
»Genau. Was wollen Sie essen? Die Küche ist georgisch. Die meisten Gäste sind aus Georgien.«
»Georgien, UDSSR, ist gleich Texas, USA«, belehrte uns Ian.
Die Speisekarte war russisch, und während die anderen ihre Wahl trafen, sah ich mich um. Am Nebentisch saßen drei Männer, und weiter hinten zwei mit dem Rücken zur Wand. Wenig Frauen. Die Gesichter waren lebhafter und unterschiedlich. Die zwei Männer an der Wand beispielsweise waren keine Moskauer Typen. Sie hatten dunklere Haut, feurige Augen und krauses, dunkles Haar. Sie beschäftigten sich intensiv mit ihrer Mahlzeit.
Die drei Männer neben uns allerdings beschäftigten sich mehr mit ihren Getränken. Von der Tischdecke war zwischen leeren Flaschen, vollen Flaschen, vollen und leeren Gläsern kaum noch etwas zu sehen. Die Männer, einer riesig, einer mittelgroß und einer klein, tranken Champagner aus enormen, tulpenförmigen Gläsern.
Malcolm sah von der Speisekarte auf und folgte meinem Blick.
»Georgier«, sagte er. »Mit hohlen Beinen geboren.« Fasziniert sah ich zu, wie die goldene Flüssigkeit in ihren Kehlen verschwand. Die Augen des kleinsten waren leicht verglast. Der große sah so nüchtern aus wie sein grauer Flanellanzug; und auf dem Tisch standen drei leere Flaschen Wodka.
Ian, Malcolm und Stephen bestellten gekonnt, und ich bat Stephen, seine Order einfach zu verdoppeln. Das Essen kam und war fremdartig und scharf, und Lichtjahre von den grauen Fleischstücken im Hotel entfernt. Der riesige Bursche am Nebentisch brüllte nach dem Kellner, der sich beeilte, eine zweite Flasche Champagner zu bringen.
»Na, wie steht’s, Sportsfreund?« fragte Malcolm und schaufelte Hühnchen mit Bohnen in seinen Mund.
»Die Beine des Kleinen sind voll«, berichtete ich.
»Was?« Er sah sich nach den drei Männern um. »Nein, ich meinte die Sherlock-Holmes-Geschichte. Was haben Sie rausgefunden?«
»Der Deutsche, der in Burleigh starb, rief mit dem letzten Atemzug nach Aljoscha, und das ist so ziemlich alles.«
»Und das war Ihnen ja bekannt«, sagte Stephen.
Ich trat ihn unter dem Tisch. Er warf mir einen fragenden Blick zu, und dann ging ihm auf, daß wir ohne Mischa gar nicht gewußt hätten, daß sie selber Bescheid wußten. Aber weder Malcolm noch Ian reagierten darauf. Schweigend aßen wir weiter.
»Das gibt nicht viel her, was, Sportsfreund?« sagte Malcolm.
»Aljoscha muß existieren. Aljoscha. Moskau.« Ich seufzte.
»Ich muß eben weitersuchen.«
»Was werden Sie als nächstes unternehmen?« fragte Ian.
Ich nahm die Brille ab, hielt sie gegen das Licht und rieb dann mit dem Taschentuch einige nicht vorhandene Flecke weg.
»Äh«, machte ich.
»Wie schlecht sind Ihre Augen, Sportsfreund?« unterbrach Malcolm. »Lassen Sie mich mal durch Ihre Fenster sehen.«
Sollte die Brille nicht kaputtgehen, mußte ich sie ihm überlassen. Er nahm mir die Brille aus der Hand und setzte sie sich auf seine eigene Nase.
»Mann«, rief er, »Ihre Augen sind ganz schön verkorkst.«
»Astigmatismus«, bestätigte ich.
»Und wie!«
Alle versuchten, die Welt durch meine Brille zu sehen, dann bekam ich sie wieder zurück. Alles wurde wieder normal.
»Auf beiden Augen?« wollte Ian wissen.
Ich nickte. »Und auf beiden verschieden. Sehr angenehm.«
Der kleine Mann am Nebentisch stützte den Kopf auf sein Champagnerglas und war wohl im Begriff, einzuschlafen. Seine Freunde tranken unverdrossen weiter und beachteten ihn überhaupt nicht. Der Riese brüllte wieder nach dem Ober, hielt drei Finger hoch, und mit offenem Mund sah ich drei weitere Flaschen Wodka ankommen.
Für uns wurde Kaffee serviert, aber ich war von der Szene vor mir fasziniert. Der Kopf des Kleinen ruhte immer noch auf dem Glas, sank aber immer tiefer. Das Glas stand schließlich auf dem Tisch, die Hand, die es hielt, rutschte weg, und der Kleine, den Kopf auf dem Glas, schlief tief und fest.
»Georgier«, sagte Malcolm mit einem Blick auf sie, als erklärte das alles.
Der Riese zahlte, erhob sich zu seiner vollen Größe von gut zwei Metern, nahm die drei Flaschen Wodka unter einen Arm, seinen schlafenden Freund unter den anderen und marschierte würdevoll hinaus.
»Unglaublich«, sagte ich.
Der Kellner, der sie bedient hatte, kam und sprach zu uns, während er ihren Abgang mit Respekt verfolgte.
Malcolm erklärte: »Der Ober sagt, sie haben mit einer ganzen Flasche Wodka pro Kopf begonnen. Dann haben sie sich noch zwei geteilt. Fünf insgesamt. Schließlich tranken sie noch zwei Flaschen Champagner. Nur Georgier kriegen das fertig.«
»Ich dachte, Sie sprechen nicht russisch«, sagte ich sanft.
Er sah mich überrascht an, und in seinen Augen zeigte sich ganz kurz das harte Funkeln vom ersten Abend.
»Ach, jetzt fällt es mir wieder ein, das habe ich Ihnen am ersten Abend erzählt, Sportsfreund. Na, ich spreche ja auch nicht russisch, das heißt aber noch lange nicht, daß ich es nicht kann. Es heißt nur, daß ich es die Rußkis im allgemeinen nicht wissen lasse. Kapiert?«
»Kapiert.«
»Es steht nicht in Ihrer Akte«, sagte Ian beiläufig.
»Stimmt genau. Die Rußkis haben die Akte auch, vergessen Sie das nicht. Ich hab mir die Sprache selbst beigebracht, mit zwölf Langspielplatten und ein paar Lehrbüchern. Aber diese Information vergessen Sie bitte
pronto.«
»Dem entgeht nichts«, mischte sich Stephen ein.
»Wem?«
»Unserm Freund Randall.«
Ian betrachtete mich mit leicht zusammengekniffenen Augen, und Malcolm rief nach der Rechnung.
Die beiden dunkelhäutigen Männer, die an der Wand gesessen hatten, waren kurz nach den Georgiern gegangen, und das Lokal leerte sich rasch. Wir holten unsere Mäntel und Mützen und gingen zitternd in die feuchte Luft hinaus. Es kam mir kälter denn je vor. Die drei anderen schlugen den Weg zur Metro ein, während ich die Gorkistraße überquerte, statt vorschriftsmäßig den Fußgängertunnel zu benutzen. Um elf Uhr nachts gab es noch weniger Wagen, die einen hätten überfahren können, und kein Fußgänger war in Sicht, ganz zu schweigen von einem Polizisten.
In einiger Entfernung, am Ende der leicht abschüssigen Straße, war das Intourist zu sehen, dessen Eingangsbaldachin auf den Bürgersteig hinausragte. Ich schlug den Mantelkragen hoch und fragte mich etwa zum zehnten Mal, warum man in der Mitte des Baldachins offenbar ab sichtlich ein großes, rechteckiges Loch gelassen hatte, durch das, wie durch ein Oberlicht ohne Glas, unfehlbar jeder Regentropfen und jede Schneeflocke fiel. Als Schutzdach für Ankommende und Abreisende war der Baldachin eine Pleite, von so viel praktischem Nutzen wie eine Badewanne ohne Stöpsel.
Ein im Leerlauf dahingleitender Verstand ist in miserabler Verfassung für einen Kampf.
Ein schwarzer Wagen fuhr an mir vorbei und hielt etwa zehn Schritte weiter. Der Fahrer stieg aus, und die andere Vordertür ging auf. Der Beifahrer trat auf den Bürgersteig,
und als ich bei ihm war, sprang er mich an.