Die Überraschung war vollkommen. Seine Hand griff nach meiner Brille, und ich schlug sie heftig beiseite, wie man nach einer Wespe schlagen würde. Wenn es darauf ankam, meine Sicht zu retten, waren meine Reflexe tadellos, auf den Rest aber war ich nicht vorbereitet.
Er drängte mich über den Bürgersteig bis an eine Hauswand. Sein Freund kam ihm zu Hilfe. Eine heftige, brutale Stärke lag in diesem Überfall, und was immer sie auch weiter vorhatten, ihr erstes Ziel war zweifellos meine Brille.
Mit einem dicken Mantel und einer Pelzmütze kämpft es sich schlecht, selbst wenn die Gegenseite ebenso gehandicapt ist. Ein Kampf jedoch schien unvermeidlich.
Den anstürmenden Beifahrer trat ich übel gegen das Knie, und als sein Kopf vorschnellte, packte ich ihn an der Balaclava, die er unter seiner Mütze trug, gab ihm einen Ruck, und sein Kopf prallte gegen die Hauswand.
Der Fahrer kam wie ein Wirbelwind an und packte mich am Arm, während er mit der anderen Hand nach meiner Brille langte. Ich duckte ab. Seine Finger erwischten nur den Pelz, womit ich meine Mütze los war. Ich versetzte ihm einen Tritt, der aber nicht sehr wirkungsvoll war, außerdem öffnete ich den Mund und begann zu schreien.
Aus voller Lunge brüllte ich »Ja-ja-ja-ja-ja« durch die leere Straße, wo kein Verkehrslärm die Decibel übertönen konnte.
Einen solchen Wirbel hatten sie nicht erwartet. Ich fühlte, wie ihr Ungestüm momentan nachließ, entriß mich ihrem Griff und rannte. Rannte die Steigung hinunter auf das Intourist zu. Rannte mit aller Kraft, die ich jedem Muskel abringen konnte. Rannte wie ein Olympionike.
Ich hörte eine der Autotüren zufallen. Hörte den Wagen
hinter mir herkommen. Rannte weiter.
Vor dem Intourist gab es Leben und wartende Taxis und Beobachter, die sich ihren Lebensunterhalt verdienten. Ob sie wohl je Leuten zu Hilfe kamen, die vor anderen Leuten in schwarzen Wagen davonliefen, fragte ich mich flüchtig. Wahrscheinlich nicht.
Nicht in Moskau.
Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu Hilfe zu rufen. Ich rannte einfach. Und ich schaffte es. Knapp allerdings.
Die Männer im Auto waren wohl zu dem Schluß gekommen, daß wir uns für einen zweiten Angriff zu nahe beim Intourist befanden, zumal ich nun auch mit voller Kraft rannte und nicht mehr mit verschwommenen Gedanken dahinschlenderte. Jedenfalls hielt das Auto nicht an, nachdem es mich überholt hatte, sondern sauste am Hotel vorbei, bog am Ende der Straße rechts ab und verschwand.
Die letzten hundert Meter verfiel ich in schnellen Schritt. Mein Herz hämmerte wild, und meine Brust hob und senkte sich heftig, während ich in tiefen Zügen die kalte, feuchte Luft einsog. Ich war keineswegs mehr so fit, wie ich es in jedem anderen Herbst, als aktiver Jockey, gewesen wäre, dachte ich grimmig.
Die letzten Meter legte ich in normaler Gehgeschwindigkeit zurück, und als ich durch das große, schleusenartige Glasportal trat, zog ich nicht mehr Blicke auf mich als sonst auch. Die Wärme in der Halle kam mir mit einemmal unangenehm vor und ließ mich noch stärker als ohnehin schon schwitzen. Ich schälte mich aus meinem Mantel, holte meinen Zimmerschlüssel und dachte, daß nichts auf der Welt mich dazu bringen konnte, die Gorkistraße zurückzugehen und meine Mütze wiederzuholen.
Mein Zimmer sah ruhig und normal aus, als wollte es mir versichern, daß Hotelgäste auf einer der Hauptstraßen der Stadt unmöglich überfallen werden konnten.
Am Picadilly konnte das passieren, dachte ich. Auf der Park Avenue, den Champs-Elysees und der Via Veneto. Warum nicht auf der Gorkistraße?
Ich warf Mantel und Zimmerschlüssel aufs Bett, goß mir ein großes Glas von dem zollfreien Seelentröster ein und sank auf das Sofa.
Zwei Angriffe an einem Tag. Ein bißchen viel.
Der erste war unzweifelhaft ein Versuch gewesen, mich zu verstümmeln oder zu töten. Der zweite - vielleicht - eine versuchte Entführung. Ohne Brille wäre ich ein leichtes Opfer gewesen. Wohin hätten sie mich wohl gebracht?
Erwartete der Prinz von mir, daß ich meiner Aufgabe bis in den Tod nachging? Wahrscheinlich nicht, dachte ich. Aber der Prinz hatte auch nicht gewußt, in was er mich da hineinschickte.
Vor allem hatte ich Glück gehabt. Und ich konnte wieder Glück haben. Falls nicht, sollte ich lieber vorsichtig sein. Mein Herzschlag beruhigte sich allmählich. Mein Atem normalisierte sich. Ich trank den Scotch und fühlte mich besser.
Nach einer Weile stellte ich das Glas ab und griff nach dem Recorder. Schaltete es ein. Suchte, neben dem Fenster beginnend, Zentimeter für Zentimeter methodisch die Wände ab.
Ergebnislos. Kein Pfeifen.
Ich schaltete den Recorder aus und stellte ihn zurück. Daß kein Pfeifton zu hören war, hieß nicht unbedingt, daß kein Abhörmikrophon in der Wand, sondern möglicherweise nur, daß es nicht eingeschaltet war. Ich ging zu Bett, lag im Dunkeln wach und dachte an den Fahrer und
Beifahrer des schwarzen Wagens. Ich schätzte sie zwischen zwanzig und dreißig, aber abgesehen davon hatten sie nur drei klare Eindrücke bei mir hinterlassen. Erstens, sie wußten von meiner Kurzsichtigkeit. Zweitens ließ die Wildheit, die ich bei ihrem Angriff verspürt hatte, auf ziemlichen Fanatismus schließen. Und drittens, sie waren keine Russen.
Sie hatten nicht gesprochen, so daß mir ihre Stimmen keinen Hinweis lieferten. Sie hatten nur die nüchterne Kleidung aller Russen getragen. Ihre Gesichter waren zu Dreivierteln verdeckt, nur ihre Augen konnte ich kurz sehen.
Warum dachte ich also ...? Ich zog die Decke hoch und legte mich bequem auf die Seite. Russen, dachte ich schläfrig, benehmen sich nicht so, außer sie sind vom KGB, und wenn der KGB mich hätte verhaften wollen, hätten sie es anders angefangen, und vor allem wäre es bei ihnen nicht schiefgegangen. Die anderen Russen waren durch Abschreckungsmittel wie Arbeitslager, Nervenheilanstalten und Todesstrafe gezähmt. Ich erinnerte mich daran, was Frank beim Frühstück gesagt hatte. »In Rußland gibt es keine Raubüberfälle. Die Verbrechensrate ist wirklich sehr niedrig. Es gibt praktisch keine Morde.«
»Revolutionen führen immer zu Repression«, sagte ich.
»Meinen Sie nicht, daß es eher umgekehrt ist?« fragte Mrs. Wilkinson mit leicht verwirrtem Gesicht.
»Die Leute wollen im Grunde gar nicht vom Schlendrian und von der Dekadenz befreit werden«, sagte ich. »Also muß man ihnen gewaltsam den Mund öffnen, um ihnen die Medizin zu verabreichen. Revolutionäre sind überall von Natur aus aggressiv, grausam und repressiv. Sie müssen unbedingt andere beherrschen. Natürlich nur zu deren Besten.«
Frank ließ sich nicht provozieren. Er wiederholte lediglich, daß es in einem voll entwickelten sozialistischen Staat wie Rußland keine Notwendigkeit für Verbrechen gebe. Der Staat befriedige alle Bedürfnisse und gebe den Menschen, was immer gut für sie sei.
Runde sechzig Jahre nach der Oktoberrevolution (die mittlerweile, wegen der Berichtigung des Kalenders, verwirrenderweise im November gefeiert wurde) ging überall auf der Welt ihre blutige Saat auf, doch in dem Land, von dem alles ausgegangen war, neigte die zweite und dritte Generation nicht zu Akten privater Gewalt.
Die Augen, die aus der Balaclava starrten, hatten mit dem Verlangen nach einer noch bevorstehenden Ernte gebrannt: sechzig Jahre jünger als der leere, ausdruckslose Blick eines Volkes, dem jede Entscheidung abgenommen war.
Kapitel 10
Frank folgte mir am nächsten Morgen ins GUM.
Nachdem ich, ohne mich einmal umzusehen, durch den Haupteingang gegangen war, blieb ich im Schatten stehen und wartete. Sehr bald tauchte er auf, ziemlich in Eile.
Beim Frühstück hatte ich auf Nataschas Drängen erklärt, daß ich mich mit weiteren Pferdeleuten treffen würde, aber vorher im GUM eine neue Pelzmütze kaufen wollte, da ich die andere verloren hätte. Frank hatte ganz leicht die Stirn gerunzelt und mich leicht forschend angesehen. Ich wußte noch, daß ich die Mütze getragen hatte, als er mir am Vorabend ins Hotel gefolgt war, nachdem ich mich ostentativ von Stephen verabschiedet hatte. Wie vorsichtig man auch mit den harmlosesten Bemerkungen sein mußte, dachte ich.