»Wo haben Sie denn Ihre Mütze verloren?« fragte er und zeigte dabei nur freundliches Interesse.
»Ich habe sie wohl in der Eingangshalle oder im Fahrstuhl fallen lassen«, sagte ich leichthin. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Natascha schlug vor, am Empfang nachzufragen. Ich sagte ja und tat es auch. Man lernte. Vielleicht nicht schnell genug, aber irgendwann doch.
Als Frank ein Stück weg war, sah ich mich um und erblickte sofort eine rote Wollmütze mit weißem Pompon. Unter der Mütze waren zwei blaugraue Augen in einem reizenden Gesicht und glattes Haar, von dem sich einige Strähnen selbständig gemacht hatten. Für eine verheiratete Mutter wirkte sie zu jung und zu schmächtig, und ich begriff, warum eine Wohnung im neunten Stock ohne
Aufzug die schiere Katastrophe war.
»Jelena?« fragte ich zaghaft.
Sie nickte unmerklich, drehte sich um und ging zielstrebig voran. Ich folgte ihr in einiger Entfernung. Um mit einem Ausländer zu sprechen, mußte sie den richtigen Augenblick abwarten, und mir war es recht, wenn es nicht in Franks Sichtweite geschah.
Sie trug einen grauen Mantel, einen roten Schal, keck über die Schulter geworfen, und eine Einkaufstasche, in der ein eingewickeltes Paket lag. Ich verkürzte den Abstand zwischen uns und murmelte nur für sie hörbar: »Ich möchte eine Pelzmütze kaufen.« Sie ließ sich nichts anmerken, aber als sie stehenblieb, war es tatsächlich vor einem Laden, der Pelzmützen verkaufte.
Das GUM ist kein Kaufhaus im westlichen Sinn, sondern mehr wie ein orientalischer Bazar; eine große Anzahl kleiner Läden unter einem Dach. Ein überdachter Markt, zwei Stockwerke hoch, mit Zwischengängen und einem hohen Glasdach. Geschmolzener Schnee fiel in Tropfen durch Risse in der Decke und bildete kleine Pfützen auf dem Boden.
Ich kaufte eine Mütze. Jelena wartete draußen auf dem Gang, bekundete keinerlei Interesse an mir und ging weiter, als ich herauskam. Ich sah mich nach Frank um, aber zahlreiche Käufer versperrten die Sicht; und das galt für beide Seiten. Wenn ich ihn nicht sehen konnte, konnte er mich wahrscheinlich auch nicht sehen.
Jelena quetschte sich durch eine lange Schlange gleichmütig wartender Leute und blieb vor einem Laden mit Kunsthandwerk stehen. Ohne weitere Umstände und kaum wahrnehmbar drückte sie mir die Plastiktasche in die Hand. Ihr Blick ruhte auf den im Fenster ausgestellten Waren, nicht auf mir.
»Mischa sagen, dir das geben.« Ihr Akzent war reizend, aber aus der Mißbilligung in ihrer Stimme schloß ich, daß sie diesen Auftrag nur ihrem Bruder zuliebe ausführte, nicht meinetwegen.
Ich dankte ihr für ihr Kommen.
»Bitte, ihm keine Schwierigkeiten machen.«
»Bestimmt nicht, das verspreche ich«, sagte ich.
Sie nickte, warf mir einen raschen Blick zu und sah wieder weg.
»Jetzt bitte gehen«, sagte sie. »Ich anstellen.«
»Wonach stehen die Leute an?«
»Stiefel. Warme Stiefel, für Winter.«
Ich betrachtete die Schlange, die sich ein gutes Stück durch einen der Gänge im Erdgeschoß, eine Treppe hoch und über die Galerie im ersten Stock erstreckte. Ihr Ende war nicht zu sehen. Sie war seit fünf Minuten keinen Schritt vorwärts gekommen.
»Aber Sie werden den ganzen Tag brauchen«, sagte ich.
»Ja. Ich brauchen Stiefel. Wenn Stiefel kommen in Laden, alle kommen kaufen. Ist normal. In England Bauern haben keine Stiefel. In Sowjetunion wir haben Glück.«
Sie ging ebenso grußlos wie ihr Bruder in der Metro und stellte sich ans Ende der geduldigen Menschenschlange. Das einzige, wofür Englands barfüßige Bauernschaft meiner Ansicht nach den ganzen Tag geduldig Schlange stehen würde, waren Karten für das Pokalfinale.
Ein Blick in das Päckchen zeigte, daß es sich bei dem, was Mischa geschickt oder was Jelena gebracht hatte, um eine Holzpuppe handelte.
Irgendwo zwischen dem GUM und dem Fußgängertunnel unter dem Platz des Fünfzigsten Jahrestages et cetera holte Frank mich wieder ein. Ein rascher Blick über die Schulter zeigte mir seinen Lockenkopf und den gestreiften Schal in der Menge. Hätte ich mich nicht umgesehen, hätte ich ihn nicht bemerkt.
Es war schon nach zehn. Ich beschleunigte meinen Schritt, schaffte die Strecke ziemlich schnell, kam an der Nordseite des Platzes nach oben und bog nach links Richtung Hotel National ab. Gleich neben dem Eingang parkte ein kleiner, knallgelber Wagen, darin ein riesiger Russe in höchster Aufregung.
»Sieben Minuten zu spät«, begrüßte er mich. »Sieben Minuten ich sitze hier illegal. Einsteigen, einsteigen und kein Entschuldigen.«
Ich gehorchte, und mit krachendem Getriebe und in schöner Mißachtung der anderen Verkehrsteilnehmer schoß er davon.
»Sie waren im GUM«, sagte er vorwurfsvoll. »Deshalb Sie zu spät.«
Ich folgte seinem Blick, und seine Hellsichtigkeit überraschte mich nicht mehr: Er sah auf das Papier in der Einkaufstüte, die Jelena mir gegeben hatte. Wie umsichtig von ihr, dachte ich, Mischas Souvenir in ein zum Treffpunkt passendes Papier zu wickeln und sie in eine Tüte zu tun, die jeder Tourist bekommen konnte. Zudem eine, die Freund Frank nicht verdächtig vorkommen würde, dachte ich zufrieden. Das Geheimnis des Überlebens in Rußland hieß Unauffälligkeit.
Juri Iwanowitsch Chulitskij erwies sich in der Zeit, die ich mit ihm verbrachte, als ein hochintelligenter Mann mit einer schuldbewußten Neigung zum Luxus und einem unterdrückten Sinn für Humor. Der falsche Mann für das Regime, der sich bemühte, in seinem Rahmen ehrenhaft zu leben, fand ich. In einem Land, wo eine eigene Meinung, selbst unausgesprochen, Verrat bedeutete, war er ein unfreiwilliger geistiger Verräter. Nicht zu glauben, was man glaubt glauben zu müssen, ist eine Qual so alt wie die Doktrin, und Juri Chulitskij litt schrecklich darunter, wie ich feststellen konnte.
Ansonsten war er ungefähr vierzig, rundlich, untrainiert, und unter seinen Augen bildeten sich bereits Tränensäcke. Er hatte die Angewohnheit, die Oberlippe zu spitzen, so daß die Schneidezähne zu sehen waren. Er sprach mit Entschiedenheit, formte die Worte sorgfältig und präzis, was jedoch daran liegen mochte, daß er Englisch sprach, und erweckte, wie schon am Telefon, den Eindruck, daß jede Äußerung zweimal überlegt wurde, bevor sie entschlüpfen durfte.
»Zigarette?« Er bot mir eine Packung an.
»Nein, danke.«
»Ich rauche«, sagte er und ließ mit der Geschicklichkeit langjähriger Übung sein Feuerzeug aufschnappen. »Sie rauchen?«
»Zigarren, aber nicht oft.«
Er knurrte. Die Finger der linken Hand, die auf dem Steuer lagen und zwischen denen er die Zigarette hielt, waren gelblich verfärbt, ansonsten waren seine Finger weiß und geschmeidig, mit breiten Spitzen und kurzen, wohlgepflegten Nägeln.
»Ich gehe Olympiabau ansehen«, erklärte er. »Sie kommen?«
»Klar«, antwortete ich.
»In Chertanowo, für Reiterspiele. Ich Architekt. Ich entwerfen Bau in Chertanowo. Heute ich gehen Fortschritt sehen. Verstehen?« »Jedes Wort«, versicherte ich.
»Gut. Ich sehen, in England wie Reiterspiele gehen. Ich sehe Notwendigkeit für Art Gebäude ...« Er verstummte und schüttelte deprimiert den Kopf.
»Sie haben sich angesehen, was bei internationalen Reiterveranstaltungen abläuft, um zu erfahren, was für Gebäude man dafür braucht und wie man sie gestalten sollte, damit sie den Bedürfnissen und Teilnehmerzahlen der Olympiade gerecht werden.«
Er grinste schief. »Ist richtig. Ich auch gehen nach Montreal. Nicht gut. Olympiade Moskau - wir bauen sehr gut.«
Das gemütliche Einbahnstraßensystem im Stadtgebiet Moskaus lief für mich darauf hinaus, daß man kilometerlange Umwege fuhr, die einen schließlich, freilich aus der umgekehrten Richtung, wieder zum Ausgangspunkt zurückbrachten. Juri Chulitskij sauste mit seinem hellen kleinen Gefährt um die Kurven, ohne spürbar den Fuß vom Gas zu nehmen, und es wirkte fast so, als wäre die Karosserie des Wagens nicht viel mehr als ein Blechmantel um seinen massigen Körper.