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Plötzlich, an einer Straßenkreuzung, wurden wir von einem Polizisten gestoppt. Juri Chulitskij zuckte die Schultern und stellte den Motor ab.

»Was ist los?« fragte ich.

Die Hauptstraße war vollkommen vom Verkehr geräumt worden. Nichts rührte sich darauf. Chulitskij sagte leise etwas, und so fragte ich noch einmaclass="underline" »Was ist los? Hat es einen Unfall gegeben?«

»Nein«, sagte er. »Sehen Linien auf der Straße?«

»Sie meinen die weißen da?«

In der Straßenmitte waren im Abstand von etwa zwei

Metern zwei parallele weiße Linien aufgemalt. Sie waren mir schon auf vielen der breitesten Straßen aufgefallen, aber ich hatte sie bloß für eine Art Niemandsland zwischen den Verkehrsspuren gehalten.

»Weiße Linien führen zu Kreml«, erklärte Chulitskij. »Politbüroleute fahren in weiße Linien zu Kreml. Alle Leute müssen anhalten.«

Nach drei oder vier Minuten tauchte ein langer, schwarzer Wagen auf und fuhr in einsamer Pracht ziemlich schnell in der Mitte der Straße, zwischen den weißen Streifen.

»Chaika«, sagte Chulitskij, als die Limousine mit zugezogenen Vorhängen an den rückwärtigen Fenstern vorbeifuhr. »Ist offizieller Wagen. Chaika in Englisch ist Seemöwe.«

Er startete den Motor, und gleich darauf gab der Polizist den Verkehr wieder frei.

»War das der Vorsitzende?« wollte ich wissen.

»Nein. Viele Politbüroleute fahren in Chaika zwischen weißen Linien. Alle anderen Wagen halten immer an.«

Demokratisch, dachte ich.

Der kleine gelbe Wagen sauste südlich der Stadt auf einer Straße dahin, die, wie er sagte, nach Warschau führte, sich für meine Augen jedoch schlicht als M4 auswies.

»Nikolai Alexandrowitsch Kropotkin sagt, helfen. Sie fragen, ich antworten«, eröffnete er schließlich das Gespräch.

»Ich suche nach einem gewissen Aljoscha.«

»Aljoscha? Viele Leute in Rußland heißen Aljoscha. Nikolai Alexandrowitsch sagen, Aljoscha finden für Randall Drew. Wer ist dieser Aljoscha?«

»Das ist das Problem«, sagte ich. »Ich weiß es nicht, und ich habe es auch nicht feststellen können. Niemand scheint zu wissen, wer es ist.« Ich hielt inne. »Haben Sie in England Hans Kramer kennengelernt?«

»Ja. Deutscher. Er tot.«

»Richtig. Nun ... er kannte Aljoscha. Die Autopsie besagt, er starb an einem Herzanfall, aber Leute, die dabei waren, als er starb, glauben, er sagte, Aljoscha sei an seinem Herzanfall schuld. Ah ... habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Ja. Ist klar. Wegen Aljoscha, ich kann nicht helfen.«

Wahrscheinlich hätte es mich überrascht, wenn er etwas anderes gesagt hätte.

»Hat man Sie schon mal nach Aljoscha gefragt?«

»Bitte?«

»Ein Engländer hat Sie im Haus des Olympiakomitees aufgesucht. Sie und Ihre beiden Kollegen, die mit in England waren.«

»Ist richtig«, gab er mürrisch zu. »Schreibt für Zeitung.«

»Malcolm Herrick.«

»Da.«

»Sie alle haben ihm gesagt, sie wüßten überhaupt nichts.«

Lange Pause, dann sagte er: »Herrick Ausländer. Genossen nichts sagen zu Ausländer.«

Wieder verfiel er in Schweigen. Wir fuhren in gleichmäßigem Tempo über die Autobahn nach Warschau, ließen das Stadtzentrum allmählich hinter uns und näherten uns einer weiteren Siedlung von eierschachtelhafter Einförmigkeit. Leichter Pulverschnee begann zu fallen, und Juri machte die Scheibenwischer an.

»Heute, morgen, es schneit. Dieser Schnee nicht schmelzen. Bleibt ganzen Winter. Schlecht für Bauen.«

»Mögen Sie den Winter?« fragte ich.

»Nein. Winter ist schlecht für Bauen. Heute ist letzter Tag wo möglich Fortschritte sehen von Gebäude in Chertanowo. Also ich fahren heute.«

Ich sagte, ich würde die Gebäude sehr gern sehen, wenn er mich herumführen wolle, und er lachte einmal kurz und kehlig auf, gab jedoch keine Erklärung dafür.

Ich fragte, ob er Hans Kramer persönlich gekannt hätte, aber er hatte mit ihm nur über Bauten gesprochen. »Und ... Johnny Farringford?« fragte ich.

»Johnny ... Farringford. Sie sagen Lord Farringford? Ist Mann mit rote Haar? Reitet in britische Team?«

»Das ist er.«

»Ich sehen ihn viele Male. Viele Orte. Ich sprechen mit ihm. Ich fragen ihn wegen Bauten. Er weiß nichts von Bauen. Ich fragen andere Leute. Andere Leute mehr gut.« Er unterbrach sich, offenbar wenig beeindruckt von den planerischen Fähigkeiten des Grafen, und wir fuhren in tiefem Schweigen vier oder fünf Meilen, auf denen er tief über alles andere als meinen Auftrag nachzusinnen schien. Schließlich, als sei er zu einem schwierigen Entschluß gekommen, sagte er: »Ist nicht gut, wenn Lord Farringford zu Olympiade kommt.«

Ich hielt den Atem an. Drängte alle raschen, aufgeregten Fragen zurück, und schließlich gelang es mir, vollkommen gelassen zu fragen: »Warum?«

Er war jedoch bereits wieder tief in Gedanken versunken.

»Sagen Sie es mir«, bat ich, ohne zu drängen.

»Für mein Land ist gut, wenn er kommt. Für Ihr Land es ist nicht gut. Wenn ich Ihnen sage, ich spreche gegen mein Land. Ist schwer für mich.«

»Ja«, sagte ich.

Nach längerer Zeit bog er plötzlich von der Landstraße ab, auf eine weniger gute, aber immer noch zweispurige Straße. Es herrschte wie üblich sehr wenig Verkehr, und er fuhr ohne große Umstände eine Kehre über den reservierten Mittelstreifen, so daß wir wieder in der Richtung standen, aus der wir gekommen waren. Er fuhr rechts heran und hielt mit einem Ruck.

Links der Straße standen, so weit das Auge reichte, grauweiße Wohnhäuser. Rechts eine weite, ebene, verschneite Fläche, die an einen Wald dicht zusammenstehender, dürrer junger Bäume grenzte. Auf der Straßenseite war sie durch einen hohen Zaun abgegrenzt, und zwischen Zaun und Straße verlief ein breiter Graben voller Schneematsch.

»Ist hier«, sagte Juri und deutete mit einem Anflug gelassenen Humors in diese alles andere als vielversprechende Landschaft.

»Olympische Reiterspiele.«

»Großer Gott«, entfuhr es mir.

Wir stiegen aus dem Auto in die bittere Kälte. Ich schaute die Straße hinunter in die Richtung, in die wir ursprünglich gefahren waren. Dort gab es hohe Flutlichtmasten aus Beton, Strommasten, dichten schwarzen Wald zur Linken, weiße, nicht enden wollende, unpersönliche Wohnblocks, eine graue, vierspurige Straße ohne Verkehr und daneben nassen, weißen Schnee. Alles war still und häßlich und so verlassen wie eine Einöde. Über allem rieselte der Vorläufer der winterlichen Kälte.

»In Sommer«, erklärte Juri, »Wald ist grün. Platz schön für Reiterspiele. Ist Gras. Alles sehr schön.«

»Ich glaube es Ihnen«, sagte ich.

Weiter vorn, an der Straßenseite, wo wir gehalten hatten, standen zwei große Reklametafeln, eine mit einer langen Anzeige zu den Olympischen Spielen, die andere mit einem großen Bild des Stadions, wie es einmal sein würde. Die Tribüne sah genial aus: sie war geformt wie ein Z, wobei der untere und obere Rang in die eine, und der mittlere Rang in die andere Richtung zeigte. Offenbar würden auf beiden Seiten der Tribüne Wettkämpfe stattfinden.

Juri hieß mich wieder einsteigen und fuhr durch ein Tor im Zaun auf die Baustelle hinaus. Einige Männer bewegten mit schweren Maschinen Erde, aber wie sie wußten, was sie bewegten, war mir ein Rätsel, denn das Ganze sah wie ein Meer von Matsch mit Pfützen von geschmolzenem Schnee inmitten einer Mondlandschaft aus. Juri griff hinter meinen Sitz und holte ein Paar riesige, schenkelhohe Gummistiefel hervor. Er zog sie an, indem er sie vor der offenen Fahrertür fest in den Matsch drückte, seine Straßenschuhe auszog, sich die Hosenbeine um die Waden wickelte und im Aufstehen die Beine hineinsteckte.