Stephen hatte recht gehabt, Mischas Anteil war nicht viel wert, und ich fragte mich, was er damit hatte anfangen können, zumal die Etiketten englisch beschriftet waren. Vier kleine, zugeschweißte Tüten mit Equipalazonpulver, pro Tüte etwa ein Gramm Phenylbutazolidin B Vet C enthaltend, das in der Pferdewelt unter der knappen Bezeichnung >Buta< bekannt war.
In den zehn Jahren, in denen ich Pferde trainierte, hatte ich das Zeug selbst unzählige Male benutzt, denn zur Linderung von Entzündungen und Schmerzen in verstauchten oder verletzten Beinen gab es nichts Besseres. Man konnte es den Pferden bei der Military und beim Springen bis unmittelbar vor dem Wettkampf geben, doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern durfte es in England bei Rennen vor dem Start nicht mehr nachweisbar sein. Buta mochte zwar umstritten und als Dopingmittel verschrien sein, aber es war so leicht zu bekommen wie Aspirin, und man brauchte dazu keinen Tierarzt.
Was Mischa besaß, stellte ungefähr eine Tagesration dar.
Als nächstes war da ein kleiner Plastikstreuer mit Sulfonamidpuder, ein brauchbares Mittel zur Wundbehandlung, und eine Probierpackung Gamma Benzin Hexachlorid, was nach meiner Erinnerung ein Entlausungspuder war. Eine zusammengerollte Reklame für eine Kur gegen Ringwürmer; und das war alles.
Keine Barbiturate. Kein Pethidin. Keine Steroide. Entweder hatte Kramer oder der deutsche Bursche sich das Beste herausgesucht.
Tja, dachte ich, als ich begann, die Sachen wieder in die Puppe zurückzupacken, das war das. Ich nahm mir noch mal alles vor, noch sorgfältiger, nur um sicherzugehen. Öffnete die Dose mit Läusepulver, die Läusepulver enthielt, und den Streuer mit Sulfonamidpuder, in dem nur Sulfonamidpuder war. Wenigstens nahm ich das an. Sollte es sich um Heroin oder LSD handeln, hätte ich den Unterschied wohl kaum erkennen können.
Die Equipalazontüten waren zugeschweißt, kamen direkt vom Hersteller und waren unberührt.
Zwischen den Programmseiten lag nichts. Ich schüttelte es, ohne Erfolg. Das beschriebene Papier legte ich für Stephen zur Übersetzung beiseite. Die leere Zigarettenpackung enthielt keine Zigaretten und auch sonst nichts, und die kleine Dose Hustenpastillen enthielt ... äh ... keine Hustenpastillen. Die Dose Hustenpastillen enthielt ein weiteres Stück zerknittertes Papier und drei sehr kleine Glasampullen auf einem Wattebett.
Die Ampullen waren von der Größe, die meine Adrenalinampullen hatten: winzige Glaskapseln, weniger als fünf Zentimeter lang, die zu einem Drittel aus einem schmalen Hals bestanden, den man abbrach, um die Nadel der Injektionsspritze einzuführen und die Flüssigkeit aufzuziehen. Jede Ampulle in der Dose enthielt einen Milliliter einer farblosen Flüssigkeit, genug für eine Injektion am Menschen. Ein halber Teelöffel voll. Nicht genug für ein Pferd, das wußte ich.
Ich hielt eine der Ampullen gegen das Licht, um den Aufdruck zu lesen, aber wie üblich war er viel zu klein. Kein Adrenalin. Soweit ich es entziffern konnte, stand da 0,4 mg Naloxon, was nicht sehr hilfreich war, weil ich nie davon gehört hatte. Ich entfaltete das Papier, und das brachte mich auch nicht weiter, denn was darauf stand, war in russisch. Ich tat es in die Dose zurück und legte es mit den anderen Geheimnissen für Stephen beiseite.
Stephen hatte geplant, den Tag zwischen Vorlesungen und Gudrun aufzuteilen, hatte jedoch gesagt, daß er sich ab vier Uhr in der Nähe des Telefons aufhalten würde, falls ich ihn erreichen wolle. Ehe ich zur Universität zottelte oder Stephen herkam, um Mischas Zettel zu entziffern, sollte ich wenigstens versuchen, ob das nicht auch telefonisch zu machen war; also rief ich ihn an.
»Wie läuft’s denn?« sagte er.
»Die Wände pfeifen.«
»Ach du Schande.«
»Egal«, sagte ich, »wenn ich Ihnen ein paar deutsche Wörter buchstabiere, können Sie mir dann sagen, was sie bedeuten?«
»Halten Sie das für schlau?«
»Unterbrechen Sie mich, wenn Sie nicht dieser Ansicht sind.«
»OK.«
»Alsdann, hier ist das erste.« Ich las ihm Buchstabe für Buchstabe, soweit ich sie entziffern konnte, die drei Zeilen deutscher Handschrift auf einer der Karten vor.
Als ich fertig war, lachte Stephen. »Das heißt: >Mit allen guten Wünschen für heute und für die Zukunft, Volker Springer.< Das ist ein Männername.«
»Ach du lieber Himmel.«
Ich sah mir die anderen Karten etwas genauer an und entdeckte etwas, das mir völlig entgangen war. Auf einer stand, als schwungvolle Unterschrift, ein Name, den ich kannte.
Auch diese Karte las ich ihm Buchstabe für Buchstabe vor.
»Das heißt«, sagte Stephen, »>Mit den besten Erinnerungen an eine sehr schöne Zeit in England. Ihr Freund .< Ihr Freund wer?«
»Hans Kramer«, sagte ich.
»Volltreffer.« Stephens Stimme kam leicht knisternd aus dem Hörer. »Sind das zufällig Mischas Souvenirs?«
»Ja.«
»Autogramme, keine Frage. Sonst noch was?«
»Ein, zwei Sachen auf Russisch. Aber das hat Zeit bis morgen früh.«
»Dann sehen wir uns um zehn. Grüße von Gudrun.«
Ich legte den Hörer auf, und fast sofort klingelte das Telefon wieder. Eine weibliche, englische Stimme, gelassen, kultiviert und beinahe gelangweilt, meldete sich.
»Ist dort Randall Drew?«
»Ja.«
»Hier ist Polly Paget«, sagte sie. »Büro des Kulturattaches.«
»Wie nett, daß Sie anrufen.« Ich sah sie deutlich vor mir; kurzes Haar, lange Strickjacke, flache Schuhe und gesunden Menschenverstand.
»Für Sie ist eben ein Fernschreiben angekommen. Ian Young hat mich gebeten, Sie anzurufen, falls Sie darauf warten.«
»O ja. Könnten Sie es mir bitte vorlesen?«
»Nun, es ist ziemlich lang und kompliziert. Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie es abholen würden. Es würde eine gute halbe Stunde dauern, bis ich es Ihnen zum
Mitschreiben diktiert habe, und, offen gesagt, möchte ich nicht soviel Zeit damit vertun. Ich habe noch sehr viel Arbeit, und wir schließen bald über das Wochenende.«
»Ist Ian da?« fragte ich.
»Nein, er ist vor ein paar Minuten weggegangen. Und Oliver ist in offizieller Mission unterwegs. Nur ich halte die Festung. Ich fürchte, wenn Sie Ihr Fernschreiben vor Montag haben wollen, müssen Sie herkommen.«
»Wie lautet der Anfang?«
Mit einem hörbaren Seufzer und unter Papiergeraschel las sie: »Hans Wilhelm Kramer, geboren am 3 .Juli 1941 in Düsseldorf, Deutschland, als einziger Sohn des Heinrich Johannes Kramer, Kaufmann .«
»Schon gut«, unterbrach ich. »Ich komme. Wie lange sind Sie noch da?« Vor meinem geistigen Auge sah ich widerwillige Taxifahrer. Vielleicht würde ich zu Fuß gehen müssen.
»Noch eine Stunde ungefähr. Wenn Sie bestimmt kommen, warte ich auf Sie.«
»Tun Sie das«, sagte ich. »Und wärmen Sie den Scotch.«
Etwas vorsichtiger geworden, nahm ich ein Taxi, um mich auf die andere Seite der Brücke bringen zu lassen, und zeigte dem Fahrer auf einem Stadtplan, wo ich hinwollte. Die Straße über die Brücke, so hatte ich festgestellt, ging in die Autobahn nach Warschau über, auf der wir nach Chertanowo gefahren waren. Noch ein paar Tage, und ich würde Moskau wie meine Westentasche kennen.
Ich bezahlte den Fahrer und stand im rieselnden Schnee, dessen Flocken mittlerweile so groß wie Rosenblätter und so anschmiegsam wie eine Geliebte waren. Sie legten sich auf meinen Ärmel, als ich die Wagentür schloß, und auf meine Schultern und überhaupt auf jede nur mögliche Fläche. Ich stellte fest, daß ich dummerweise meine Handschuhe vergessen hatte, steckte die Hände in die Manteltaschen und stieg die Stufen zur tieferliegenden Straße hinunter, um auf ihr zur Botschaft zu gehen.
Ich hatte mich unbeobachtet und sicher geglaubt; aber das war ein Irrtum. Die Tiger warteten unter der Brücke.