Aus dem fehlgeschlagenen Versuch in der Gorkistraße hatten sie einiges gelernt.
Zunächst einmal hatten sie einen weniger öffentlichen Ort gewählt. Die einzige Zuflucht war jetzt nicht der hellerleuchtete Eingang des Hotel Intourist, sondern das festgeschlossene Tor der Botschaft, mit einem Posten als zusätzlichem Hindernis davor.
Sie hatten gelernt, daß meine Reflexe nicht die langsamsten waren und ich keine Hemmungen hatte, Tritte auszuteilen.
Es waren wieder nur zwei, aber diesmal waren sie bewaffnet. Nicht mit Pistolen, sondern mit Schlagstöcken; häßliche, harte Dinger wie Baseballschläger, die an Lederschlingen vom Handgelenk baumelten.
Das erste, was ich davon zu spüren bekam, war ein dröhnender Schlag auf den Kopf. Die Pelzmütze rettete mich wahrscheinlich davor, daß mir sofort der Schädel eingeschlagen wurde, aber ich taumelte benommen, verwirrt, ohne zu wissen, was geschehen war, unter der Wucht des Hiebes.
Eine Sekunde lang sah ich sie ganz klar, wie auf einem Foto. Zwei Gestalten im Licht der Straßenlaterne vor den dunklen Schatten unter der Brücke. Den im Schutz der Brücke spärlicher fallenden Schnee. Die erhobenen Arme mit den geschwungenen Schlagstöcken.
Ohne Zweifel waren es dieselben Männer. Dieselbe brutale Art des Überfalls, dieselbe rasche Wildheit, dieselben gnadenlosen Augen hinter den Balaclavas. Dieselbe Menschenverachtung.
Ich strauchelte und verlor meine Mütze. Mit den Armen versuchte ich mich zu schützen, aber das half nicht viel. Selbst ein Schlagstock kann durch dicke Schichten von Jacken und Mantel nur begrenzten Schaden anrichten, so daß der Angriff bis zu einem gewissen Grad eher lahmte als ernsthaft verletzte, aber der dritte oder vierte Schlag ging an meiner schwachen Deckung vorbei und schlug mir die Brille herunter. Ich versuchte sie aufzufangen, erhielt einen Schlag auf die Hand und verlor die Brille im fallenden Schnee.
Darauf schienen sie nur gewartet zu haben. Die Schläge hörten auf, dafür packten sie mich. Ich trat und schlug nach Zielen, die ich nicht mehr richtig sehen konnte, und richtete zuwenig Schaden an, um sie zu stoppen.
Mir kam es so vor, als würde ich hochgehoben, und für einen Moment konnte ich mir nicht vorstellen, wozu. Dann fiel mir ein, wo wir waren. Auf der Straße neben dem Fluß ... der mitleidlos auf der anderen Seite der brusthohen Mauer floß.
Verzweiflung ließ mich kämpfen, wo absolut keine Hoffnung mehr war.
Ich hatte die Moskwa von verschiedenen Brücken aus gesehen, und überall waren die Böschungen gleich. Keine grasbewachsenen Ufer, die sanft zum Wasser hin abfielen, sondern graue, steile Mauern, die sich ungefähr zweieinhalb Meter hoch aus dem Wasser erhoben. Sie sahen eher nach Hochwasserschutz als nach Touristenattraktion aus: unüberwindlich für alles, was sich zwischen ihnen befand.
Ich klammerte mich wild an alles in Reichweite. Ich zerkratzte ihre Gesichter, ihre Hände. Einem von ihnen entlockte ich ein Knurren, dem anderen ein Wort in einer mir unbekannten Sprache.
Ich glaubte nicht wirklich, daß jemand die Straße entlangkommen und sie in die Flucht schlagen würde. Ich kämpfte einfach; denn solange ich auf der Straße war, war ich noch am Leben, aber sobald ich im Wasser landete, so gut wie tot. Selbsterhaltungstrieb und Wut, sonst nichts.
Aber es war hoffnungslos. Sie hatten mich hochgehoben und wälzten mich über die Mauer. Ich spielte weiter die Klette. Dem einen zerrte ich die gestrickte Balaclava herunter, aber was er auch befürchtet haben mochte, ich hätte ihn immer noch nicht zweifelsfrei identifizieren können. Eine der Straßenlaternen schien ihm voll ins Gesicht, und ich sah ihn, als wäre er von Picasso gezeichnet.
In meiner Zeit als Jockey hatte ich eine Brille getragen, die am Hinterkopf mit einem doppelten Gummiband zwischen den Bügeln befestigt war - ein nützliches Utensil, das zusammen mit meinem fünf Pfund schweren Sattel Staub ansetzte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß es in Moskau den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten könnte.
Sie zogen und zerrten, und Stückchen für Stückchen zerrten sie mich über die Mauer. Alles kam mir quälend langsam und schmerzhaft endlos vor: ein paar Sekunden Gerangel, die mir wie eine Ewigkeit erschienen.
Mit einer Hand hing ich an der Mauer und am Leben, der Rest schwebte über dem Wasser.
Sie schwangen, wie ich Zeit hatte zu erkennen, einen Schlagstock. Ich erhielt einen zermalmenden Schlag auf die Finger. Sie gehorchten mir nicht mehr, und ich fiel von der Mauer wie ein vollgesogener Blutegel.
Kapitel 12
Der Winter hatte bereits ganz von der Moskwa Besitz ergriffen. Ich verschwand unter der Wasseroberfläche, und die plötzliche, unbeschreibliche Kälte war der betäubende, schlagartige Schock, den im arktischen Ozean Badende nicht überleben.
Ich kämpfte mich wieder an die Luft, aber in meinem Herzen wußte ich, daß die Schlacht verloren war. Ich war schwach und halb erblindet, und es war dunkel und schneite in dicken Flocken. Die Temperatur nahm mir den Atem, und meine rechte Hand war völlig gefühllos. Meine Kleidung saugte sich voll Wasser und wurde immer schwerer. Bald würde sie mich in die Tiefe ziehen. Die Strömung trieb mich flußabwärts, unter der Brücke hindurch, weg von der Botschaft; und noch während ich um Hilfe zu rufen versuchte, dachte ich, daß die einzigen menschlichen Wesen in Hörweite die beiden waren, von denen ich keine zu erwarten hatte.
Jedenfalls trug der Schrei mir einen Mund voll eisigem Wasser ein; und das schien das Ende zu sein.
Lethargie begann meine Schwimmversuche zu verlangsamen und meinen Verstand zu betäuben. Entschlußkraft verebbte. Zusammenhängendes Denken hörte auf. Ich war von der Kälte narkotisiert; ein Klumpen bereits geistloser Materie, alle körperlichen Funktionen kurz vor dem Stillstand, willenlos, hilflos untergehend.
Ich begann tatsächlich zu sterben.
Undeutlich vernahm ich eine Stimme.
»Randall . Randall .«
Helles Licht schien mir ins Gesicht.
»Randall, hierher. Halten Sie aus ...«
Ich konnte nicht länger aushalten. Meine Beine hatten ihren letzten schwachen Zappler getan. Die einzige Richtung, die mir blieb, war nach unten, in den tiefen, eisigen Tod.
Etwas Flaumiges fiel auf mein Gesicht, flaumiger und fester als Schnee. Ich war darüber hinaus, danach zu greifen, mir kam nicht einmal der Gedanke. Aber irgendwo in den letzten Tiefen des Bewußtseins muß ein Instinkt noch am Werk gewesen sein, denn ich machte den Mund auf und biß in das, was da über mein Gesicht gefallen war.
Eine Menge weiches Zeug kam mir zwischen die Zähne. Und dann war da ein Ruck, als zöge jemand daran. Ich biß fester zu.
Wieder ein Ruck. Mein Kopf, der schon fast unter Wasser gewesen war, kam ein paar Zentimeter hoch.
Schwerfällig kroch ein Gedanke in die alten Gehirnwindungen zurück. Wenn ich an dieser Leine festhielt, wurde ich vielleicht wie ein Fisch ans Ufer gezogen.
Ich sollte mich wohl mit mehr als den Zähnen festhalten, dachte ich verschwommen.
Hände.
Da war doch was mit Händen.
Konnte sie nicht spüren.
»Randall, halten Sie fest. Hier ist gleich eine Leiter.«
Ich hörte die Worte, und sie kamen mir albern vor. Wie konnte ich eine Leiter hochklettern, wenn ich meine Hände nicht spürte?
Trotzdem war ich wach genug, um zu begreifen, daß mir eine letzte, winzige Chance gegeben worden war, und verbiß mich mit aller Macht in dem weichen Rettungsseil.
Das Seil zog mich gegen die Mauer.
»Halten Sie sich fest«, rief die Stimme, »Da irgendwo ist sie. Ganz nah. Halten Sie nur aus.«
Ich schlug gegen die Mauer. Ganz nah war vielleicht nicht nah genug. Ganz nah war so weit weg wie die Sonne.
»Hier ist sie«, schrie die Stimme. »Sehen Sie sie? Direkt neben Ihnen. Ich leuchte mit der Taschenlampe. Da. Können Sie danach greifen?«