Greifen. Nach was?
Wie ein Stück Holz lag ich da.
»Großer Gott«, sagte die Stimme. Wieder fiel Licht auf mein Gesicht und ging dann aus. Ich hörte Geräusche näherkommen, auf der Flußseite die Mauer herunterkommen.
»Geben Sie mir die Hände.«
Ich konnte nicht.
Ich spürte, wie jemand meinen rechten Arm am Mantelärmel aus dem Wasser zog.
»Großer Gott«, wiederholte er; und ließ ihn zurückfallen.
Er zerrte meinen linken Arm hoch.
»Halten Sie sich damit fest«, kommandierte er, und ich spürte, wie er versuchte, meine Finger um so etwas wie eine waagrechte Stange zu biegen.
»Hören Sie«, sagte er. »Sie müssen aus dem verdammten Fluß raus. Sie sind ja schon halb tot, wissen Sie das? Sie waren schon viel zu lange drin. Und wenn Sie nicht innerhalb einer Minute draußen sind, kann Sie nichts mehr retten. Haben Sie das kapiert? Dann klettern Sie um Himmels willen da rauf!«
Ich konnte nicht sehen, wo ich raufklettern sollte, selbst wenn ich die Kraft dazu besessen hätte. Wieder holte er meinen rechten Arm aus dem Wasser, und ich hatte den Eindruck, daß er versuchte, meine rechte Hand hinter die waagrechte Stange zu praktizieren, denn auf einmal spürte ich sie an meinem Handgelenk.
»Stellen Sie die Füße auf eine der Sprossen unter Wasser«, befahl er. »Tasten Sie danach. Die Leiter reicht weit runter.«
Vage begann ich zu verstehen. Versuchte einen Fuß auf eine der unter Wasser liegenden Sprossen zu kriegen, und wie durch ein Wunder gelang es mir. Er merkte es sofort an meinem Gewicht.
»Gut. Die Sprossen sind nur dreißig Zentimeter weit auseinander. Ich lege Ihre linke Hand auf die nächste Sprosse. Und lassen Sie bloß nicht Ihre rechte Hand wegrutschen.«
Ich bot die letzten Reste tiefgekühlter Kraft auf und schob mich tatsächlich dreißig Zentimeter die Wand hinauf.
»Sehr schön«, sagte die Stimme über mir, und es klang mächtig erleichtert. »Und jetzt immer so weiter, und fallen Sie bloß nicht runter.«
Ich machte immer so weiter und fiel auch nicht runter, obwohl es mir wie der Mount Everest und das Matterhorn auf einmal vorkam. Irgendwann, als eine Hälfte von mir aus dem Wasser heraus war, machte ich den Mund auf und ließ das flaumige, mittlerweile durchnäßte Ding herausfallen. Von oben kam ein Ausruf, und sofort wurde das Seil statt dessen um mein linkes Handgelenk gebunden.
Er kletterte vor mir die Leiter hinauf, immer noch fluchend, Befehle erteilend und mich zur Eile antreibend.
Schritt für Schritt kamen wir langsam hinauf. Als ich oben ankam, stand er schon auf der anderen Seite der
Mauer, griff nach mir und rollte mich über die Brüstung auf festen Boden. Sofort gaben meine Beine unter mir nach, und ich fiel zu einem triefenden Haufen auf der schneebedeckten Erde zusammen.
»Ziehen Sie Mantel und Jacke aus«, kommandierte er. »Begreifen Sie nicht, daß Kälte genauso schnell tötet wie eine Kugel?«
Verschwommen sah ich ihn im Licht der Straßenlaternen, aber es war seine Stimme, die ich schließlich mit Bestimmtheit erkannte, wenn ich auch glaubte, irgendwann an der Mauer im Unterbewußtsein Bescheid gewußt zu haben.
»Frank«, sagte ich.
»Ja. Nun machen Sie schon. Kommen Sie, ich mache die Knöpfe auf.« Seine Finger waren stark und geschickt. »Ziehen Sie das aus.« Er zerrte heftig an den klebenden, nassen Ärmeln.
»Das Hemd auch.« Er riß es mir herunter, so daß der Schnee auf meine nackte Haut fiel. »Jetzt ziehen Sie das hier an.« Er führte meine Arme in etwas Warmes, Trockenes, das er vorne zuknöpfte.
»Gut«, sagte er. »Und jetzt müssen Sie zur Brücke zurücklaufen. Es sind nur ein paar hundert Meter. Stehen Sie auf, Randall. Los, machen Sie schon.« Schärfe lag in seiner Stimme, sicher weil ihm auch kalt war, denn was immer mich jetzt schützte, war von ihm gekommen. Mit weichen Knien stolperte ich neben ihm her und hätte gern über die Ironie der Dinge im allgemeinen gelacht, aber für derartige Frivolitäten fehlte mir der Atem.
Als ich beinahe gegen einen Laternenmast lief, sagte er ärgerlich: »Können Sie nicht aufpassen?«
»Habe meine B-b-rille verloren«, erklärte ich.
»Wollen Sie behaupten, daß Sie ohne Brille noch nicht mal einen gottverdammten Laternenmast sehen können?« fragte er ungläubig.
»Nicht ... genau.«
»Großer Gott.«
In seinem Mantel zitterte ich am ganzen Körper, bis ins Mark ausgekühlt. Obwohl sie offenbar ihren Dienst taten, schienen meine Beine nicht zu mir zu gehören, und in der Denkabteilung herrschte noch ziemliche Verwirrung.
Wir gelangten zu einer Reihe Stufen, über die wir uns zur Hauptstraße schleppten. Mit erstaunlicher Promptheit rollte ein schwarzer Wagen heran und hielt neben uns. Frank warf meine nassen Sachen auf den Rücksitz und stieß mich hinterher. Er selbst setzte sich nach vorn und gab dem Fahrer knappe Anweisungen auf russisch, mit dem Ergebnis, daß wir die nun bereits vertrauten, langen Einbahnstraßen entlangfuhren und schließlich vor dem Hotel Intourist hielten.
Frank nahm meine Sachen und begleitete mich durch die Eingangstür in die Umarmung der Zentralheizung. Ohne mich nach meiner Zimmernummer zu fragen, holte er meinen Schlüssel, schob mich in den Lift, drückte auf den Knopf für die achte Etage und begleitete mich bis zu meiner Tür, steckte den Schlüssel ins Schloß, machte auf und lotste mich hinein.
»Was werden Sie machen, wenn Sie nichts sehen können?« fragte er.
»H ... habe eine Ersatzb ... brille mit.«
»Wo?«
»Oberste Schublade.«
»Setzen Sie sich«, sagte er und stieß mich förmlich auf das Sofa, obwohl der kleinste Schubs genügt hätte. Ich hörte, wie er die Schublade aufzog, und gleich darauf legte er mir die Reservebrille in die Hand. Ich fummelte sie mir auf die Nase, und die Welt nahm wieder ihr gewohntes Aussehen an.
Er betrachtete mich mit unerwarteter Sorge, sein Gesicht hart und intelligent, aber noch während ich ihn ansah, verschwand der falkenhafte Ausdruck, und die Züge nahmen die Mittelmäßigkeit an, die wir von den Mahlzeiten her kannten.
Er trug, wie ich sah, nur einen Sweater über dem Hemd und um den Hals seinen langen gestreiften Collegeschal. Meine Rettungsleine.
»I . ich g . gebe Ihnen besser Ihren M . mantel zurück«, murmelte ich und versuchte, die Knöpfe aufzumachen. Die Finger meiner rechten Hand waren kraftlos und schmerzten, also nahm ich die linke.
»Sie sollten lieber ein heißes Bad nehmen«, meinte er schüchtern. Da war keine Entschlossenheit mehr, kein Fluchen, keine außerordentliche Tüchtigkeit.
»Ja«, sagte ich. »Danke.«
Seine Augen flackerten. »Ein Glück, daß ich zufällig vorbeikam.«
»Der glücklichste Zufall meines Lebens.«
»Ich ging gerade etwas spazieren, da sah ich Sie aus einem Taxi steigen und die Stufen hinuntergehen«, erklärte er. »Dann hörte ich einen Schrei und ein Aufklatschen, dachte natürlich nicht, daß Sie das sein könnten, wollte aber doch lieber nachsehen. Also folgte ich Ihnen, und glücklicherweise hatte ich meine Taschenlampe bei mir. Tja, so war das.«
Die Frage, wie ich unabsichtlich über eine brusthohe Mauer hatte fallen können, vermied er peinlichst.
»Meine Erinnerung ist ziemlich verschwommen«, erwiderte ich entgegenkommend, und das schien ihm zu gefallen.
Er half mir aus seinem Mantel und in meinen Morgenrock.
»Wird es so gehen?« fragte er.
»Ja, prima.«
Offenbar wollte er weg, und ich hielt ihn nicht auf. Er nahm Hut und Taschenlampe vom Sofa, dazu seinen Mantel, murmelte etwas wie, ich solle dem Hotel meine Sachen zum Trocknen geben, und entfloh einer für ihn sicher recht peinlichen Lage.
Mir war ziemlich komisch. Heiß und kalt zur gleichen Zeit und leicht schwindlig. Ich entledigte mich der restlichen klammen Kleidungsstücke, die als feuchter Haufen im Badezimmer zurückblieben.